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Ornette Coleman live beim Montreux Jazz Festival im Jahr 2006. Nun ist die Jazzlegende 85-jährig verstorben.

Foto: EPA/MARTIAL TREZZINI

Das Buch über die rätselhafte harmolodische Theorie, das er schon 1972 angekündigt hatte, ist nie erschienen. Und das ist wahrscheinlich auch gut so, denn: Sein praktischer Wert wäre begrenzt gewesen. Wurde doch im Laufe der Jahre klar, dass sich hinter "Harmolodics" (dem Kunstwort aus "harmony", "motion" und "melody") keine konkrete Methode mit klar definierten Regeln verbarg, sondern vielmehr eine offene, multikulturell und multimedial ausgerichtete Philosophie. Zudem passte ein bisschen Mysterium ja ganz gut zur Aura des genial-schrulligen Eigenbrötlers, die Ornette Coleman zeit seines Lebens umgab, selbst dann noch, als der 1930 in Fort Worth, Texas, geborene und in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsene Musiker längst als Klassiker der Jazzgeschichte gefeiert wurde.

Es war im November 1959, als Coleman, der die Jahre zuvor an der US-Westküste, in Los Angeles, verbracht hatte, in der New Yorker Jazzszene wie eine Bombe einschlug: Auf des Bühne des Clubs "Five Spot" stand da ein merkwürdiger Mann mit einem Plastiksaxofon, dessen melodische Linien sich nicht viel um die bis dahin übliche 32- oder 12-taktige Chorusform wie auch um fixe Harmoniefolgen kümmerten. Colemans "Original Quartet" mit Trompeter Don Cherry, Bassist Charlie Haden und Schlagzeuger Billy Higgins spaltete die Jazzwelt in Gegner und Befürworter.

Kühne Avantgarde

Unbescheiden betitelte LP-Veröffentlichungen wie "The Shape of Jazz to Come" und "Change of the Century" heizten die Diskussionen zusätzlich an: Was heute aufgrund der Blues-gefärbten melodischen Sinnlichkeit als tief in der Tradition verwurzelte Musik gehört wird, war Ende der 1950er-Jahre tatsächlich kühne Avantgarde. "New Thing" nannte man anfangs ratlos die neuen, freien Klänge, die man um diese Zeit auch von Pianist Cecil Taylor vernahm, dem anderen großen Innovator des Jazz der 1960er-Jahre. Ornette Coleman, dem konservativen Revolutionär, blieb es vorbehalten, dieser Musik mit dem im Dezember 1960 in "Doppelquartett"-Besetzung aufgenommenen Album "Free Jazz" zu einem Namen zu verhelfen.

Bob Hardy

Doch Coleman ließ sich nicht auf die Figur des Freejazzers reduzieren. Da war auch der Komponist, der schon 1962 mit der Uraufführung des Streichquartetts "Dedication to Poets and Writers" überraschte und dessen Ambitionen 1972 in der Symphonie "Skies of America", aufgenommen mit dem London Philharmonic Orchestra, gipfelten. Da war der Musiker, der sich Mitte der 1970er-Jahre mit der "Prime Time"-Band (mit Gitarrist James Blood Ulmer und E-Bassist Jamaaladeen Tacuma) gleichsam neu erfand: Inspiriert von der Musik der Master Musicians of Jajouka im marokkanischen Rif-Gebirge, entwarf Coleman seine Vision einer tanzbaren Avantgarde-Musik in Gestalt eines kollektiv musizierten, elektrifizierten Free Funk.

Kein Purist

1985 überraschte der damals immerhin schon 55-jährige Altsaxofonist mit einer Einspielung mit Gitarristen-Jungspund Pat Metheny: "Song X" gilt für viele als eines der besten Alben in Colemans Diskografie. Der Texaner war kein Purist: Hatte er schon 1968 an der LP "Plastic Ono Band" von Yoko Ono und 1975 an einer Einspielung von Chansonnier Claude Nougaro mitgewirkt, so partizipierte er in späteren Jahren an Aufnahmen von Singer-Songwriter Joe Henry ("Scar", 2001) und Lou Reed (Edgar-Allan-Poe-Projekt "The Raven", 2003). Umgekehrt hatte beim "Prime Time"-Album "Virgin Beauty" 1988 auch "Grateful Dead"-Mastermind Jerry Garcia seine Finger im Spiel.

In den letzten Jahrzehnten war Ornette Colemans Tonträger-Output überaus spärlich: Nach "Colors" (1996), dem Aufsehen erregenden Duo-Opus mit Pianist Joachim Kühn, musste man zehn Jahre auf das Live-Album "Sound Grammar" warten, das 2007 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Die CD "New Vocabulary", mit der Ende 2014 Aufnahmen mit Trompeter Jordan McLean und Schlagzeuger Amir Ziv aus dem Jahr 2009 erschienen, wurde von Coleman als nicht autorisiert beklagt. Auch Konzerte waren rar.

2009 gastierte Coleman zuletzt in Österreich, beim 30. Jazzfestival Saalfelden. Der Musiker, dessen Gesundheitszustand in den letzten Jahren zunehmend labil war, konnte sich erratische Veröffentlichungsintervalle leisten: Beweisen musste er nichts mehr. Allein sein einzigartiger Saxofonton, von Charlie Parker herkommend, in Richtung eines an der ersten Note erkennbaren bluesig-sauren Sounds weiterentwickelt, hat Generationen von Instrumentalkollegen zwischen John Zorn und Max Nagl beeinflusst. Kompositionen wie "Lonely Woman" und "Ramblin’" gelten als Standards. Nun ist die Stimme Ornette Colemans, der am Donnerstagmorgen im Alter von 85 Jahren in New York einem Herzinfarkt erlag, für immer verstummt. (Andreas Felber, 11.6.2015)