Jochen Wegner, Chefredakteur von "Zeit Online". Am Freitag ist er zu Gast in Wien, um beim Media Innovation Day 2015 des FJUM zu referieren.

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STANDARD: "Zeit Online" ist Teil der Google-Initiative zur Kooperation mit Medien. Was erhoffen Sie sich – außer Geld?

Wegner: Wir erhoffen uns alles außer Geld. Wir wollen stattdessen mit Google ins Gespräch kommen. Die Initiative zerfällt ja in zwei Teile. Einerseits gibt es einen Innovationsfonds, der mit 150 Millionen Euro dotiert ist. Ein Gremium entscheidet, welches Projekt förderungswürdig ist. Jeder kann sich dafür bewerben. Der zweite Teil erscheint mir wichtiger, nämlich dass es einen ernsthaften Dialog zwischen Medien und Google gibt. Das war vor ein paar Jahren schwieriger. Journalisten wurden im Silicon Valley eher mit Mitleid betrachtet – als Überlebende eines sterbenden Geschäftsmodells. Mittlerweile hat sich das Ökosystem geändert. Alle paar Wochen entstehen neue, spannende Projekte, und auch traditionelle Medien erfahren eine Wertschätzung, die es vor fünf Jahren nicht gegeben hat. Es ist schon erstaunlich, wie sich Google, Facebook und Apple derzeit um klassischen Journalismus bemühen. Heute reden wir mit ihnen allen ganz konkret über neue Projekte.

STANDARD: Welcher Natur können solche Projekte im Falle von Google sein?

Wegner: Es gibt eine lange Liste mit Themen, über die wir sprechen, aus Gebieten wie Monetarisierung, Distribution von Inhalten, Analyse von Daten. Zum Teil ist das sehr konkret, nehmen wir Google News. Das ist ein nützliches Angebot, in dem aber viele Seiten mit nicht besonders relevanten Inhalten eine wichtige Rolle spielen. Wie kann man die Qualität der dargestellten Inhalte verbessern? Oder Youtube: Wie können wir die Plattform in Technik und Vermarktung noch besser für Publisher nutzen? Selbst solche scheinbar kleinen, aber konkreten Projekte finde ich fruchtbarer, als Debatten darüber zu führen, wie man Google politisch Geld abpressen kann.

STANDARD: Erhoffen Sie sich dann mit "Zeit Online" ein besseres Ranking in Google News?

Wegner: Wir wollen nicht das Ranking beeinflussen, aber vielleicht schafft es Google, Inhalte mit höherer Qualität besser darzustellen, als das jetzt der Fall ist. Im Moment habe ich den Eindruck, dass Facebook wesentlich forscher voranschreitet und die interessanteren Projekte startet. Google hat Nachholbedarf.

STANDARD: Gerade auch wegen Google News gibt es den Clinch zwischen der Suchmaschine und deutschen Verlagen, die auf Abgeltungen nach dem Leistungsschutzrecht pochen. Eine Doppelmoral?

Wegner: Ich bin nicht Teil des Clinches. Ich habe in den Frühtagen sehr direkt miterlebt, wie die Idee für ein Leistungsschutzrecht entstand. Aus mehreren Gründen hielt ich das damals für Unsinn – und diese Gründe gelten bis heute. Schon deshalb ist es für mich nicht schizophren, wenn wir mit Google in Gesprächen sind.

STANDARD: Das heißt, dass "Zeit Online" bei der Google-Initiative mitmachen kann, aber nicht etwa Axel Springer, die gegen Google über die Verwertungsgesellschaft VG Media vorgehen?

Wegner: Selbst wenn ich der Meinung wäre, dass es ungerecht ist, wie Google agiert, könnte ich dennoch Gespräche über gemeinsame Projekte führen. Ich sehe da keinen Widerspruch. Die Leistungsschutz-Debatte ist ein seit Jahren geführtes Rückzugsgefecht, das niemanden weiterbringt und zu viel Energien von Verlagshäusern bindet.

STANDARD: Zurück zu Ihrem Facebook-Lob: Die Plattform experimentiert gerade mit "Instant Articles". Ausgewählte Medien publizieren ihre Artikel direkt auf der Plattform. Wären Sie gerne dabei?

Wegner: Ich finde diese Initiative sehr gut. Facebook gibt Medien die Möglichkeit, Inhalte hochwertig und einfach zu präsentieren. Medienhäuser können ihre Artikel selbst vermarkten, was für viele ein wichtiger Punkt ist. Natürlich möchte man sein Tafelsilber nicht einfach rüberreichen und mit ihm das Geschäftsmodell. Facebook ist den Verlagen hier entgegengekommen. Dazu kommt, dass wir immer mehr Reichweite von Facebook-Nutzern bekommen. Ich habe dennoch nicht die Sorge, dass wir morgen nur noch von einem einzigen sozialen Netzwerk abhängig sind. "Zeit Online" hat 68 Prozent direkte Zugriffe – das sind Leser, die ohne den Umweg Facebook, Google oder Twitter direkt zu uns kommen. Für eine Marke wie unsere ist es nicht so entscheidend, ob Facebook im kommenden Jahr die Initiative in eine andere Richtung dreht.

STANDARD: Braucht es dann überhaupt Facebook, wenn die Mehrheit der User über die Startseite auf das Portal kommt?

Wegner: Als Journalisten interessieren wir uns sehr dafür, auf neuen Plattformen vertreten zu sein. Facebook ist für uns kostbar, weil wir dort mit neuen Lesern ins Gespräch kommen. Unsere Inhalte konnten wir dort allerdings bisher nur sehr beschränkt darstellen. Man postet Links und lotst Nutzer auf seine Seite, die Darstellung direkt auf Facebook ist bisher effektiv, aber spartanisch.

STANDARD: Basteln Sie schon an neuen Artikelformen, die auf Facebook präsentiert werden können?

Wegner: Wir basteln ja ohnehin den ganzen Tag an neuen Formen. Facebook ermöglicht es nun, Inhalte hochwertig zu präsentieren. Technisch ist es sehr einfach, auch multimediale Geschichten darzustellen. Wir haben die Möglichkeit, mit unseren Inhalten zu spielen und viele Storytelling-Elemente einzubringen.

STANDARD: Apple plant mit dem Betriebssystem iOS 9 ab Herbst Apple News mit personalisierten Nachrichten. Manche Experten sehen dies als wichtigste Innovation im Apple-Portfolio für Verlage der letzten Jahre. Sie auch?

Wegner: Nein, denn die wichtigsten Medien-Innovationen auf Apples Plattform produziert seit jeher ja nicht Apple selbst, sondern die vielen Anbieter von Medien-Apps. Mit dem Appstore hat Apple etwas wirklich Großes geschaffen, das unser Jahrhundert prägt. Apples eigene Projekte für journalistische Medien haben bisher etwa im Gegensatz zu iTunes nie so richtig funktioniert, der Newsstand etwa kam nie wirklich in Gang. Nun neigt man sich eher einem Ansatz nach Art von Flipboard zu - und bietet Publishern nach Vorbild von Facebook die Möglichkeit, das selbst mit Anzeigen zu vermarkten. Ich bin gespannt.

STANDARD: Apple holt sich für den Start in den USA, Großbritannien und Australien Verlage als Partner ins Boot. Wären Sie gerne dabei, wenn es nach Deutschland geht?

Wegner: Auch hier gilt: Unseren Journalismus sehen wir gerne auf vielen Plattformen. Bei all der neuen Entbündelung ist es hilfreich, eine starke Marke zu haben, die dem standhält.

STANDARD: Ein anderes Branchenthema ist Paid Content: Die "Süddeutsche" macht es vor, "Spiegel Online" wird nachziehen. Wann ist es bei "Zeit Online" soweit?

Wegner: Die digitale "Zeit" wird jede Woche von 40.000 Lesern gekauft. Paid Content liefert damit für uns bereits einen nennenswerten Ergebnisbeitrag. Diese Zahl kann sich in den nächsten Jahren verdoppeln oder verdreifachen. Ich denke aber nicht, dass wir im nächsten Schritt eine harte Bezahlschranke auf "Zeit Online" einführen werden, weil unsere beiden Geschäftsmodelle – also Print und Online – unabhängig voneinander sehr gut funktionieren. Sicher ist es aber sinnvoll, zu experimentieren, wie wir noch mehr Leser an unsere Inhalte heranführen können.

STANDARD: Meinen Sie den Deal Nutzerdaten gegen Inhalte?

Wegner: Ein Problem einer klassischen Website ist, dass sie die überwiegende Zahl ihrer Leser nicht kennt. Das können wir ändern. Ein wichtiger Schritt, der oft unterschätzt wird, ist es, mit Leuten ins Gespräch zu kommen. "Zeit Online" hat mittlerweile eine größere Reichweite als die gedruckte "Zeit", und unsere Lesergruppen überschneiden sich nur zu etwa zehn Prozent. Wir können also viele gezielt für Angebote des Verlags ansprechen.

STANDARD: Sie haben erst kürzlich gesagt, dass Sie nicht an den Erfolg mit Micropayment-Modellen glauben, sondern generelle Abomodelle bevorzugen. Warum?

Wegner: Sie funktionieren durchwegs besser – ich bin gespannt, ob jemand das Gegenteil zeigen kann. Eine Flatrate, die nicht jede einzelne Nutzeraktion mit einem Preis versieht, scheint für viele attraktiv zu sein – das gilt für Musik, Filme und auch für journalistische Inhalte. Bei populären Medien jenseits der Fachpresse sehe ich in Deutschland eigentlich nur ein einziges Modell mit Einzelzahlungen, das funktioniert: jenes der Stiftung Warentest. Die machen substanzielle Umsätze damit, dass Leute für einen Waschmaschinentest bezahlen – in einer sehr konkreten Nutzungssituation. In den meisten Fällen wird ja nicht ein einzelner Leitartikel mein Leben verändern, der Zauber liegt vielmehr in der Gesamtkomposition, im Lebensgefühl, das ein Medium vermittelt. Viele Leser sind gerne Teil einer Community, sie sind der Marke verbunden. Gerade bei General-Interest-Angeboten bin ich deshalb skeptisch, dass Einzelzahlungen der richtige Weg sind.

STANDARD: Die niederländische Paywall-Plattform Blendle startet bald in Deutschland. Mit "Zeit"-Inhalten. Was erwarten Sie sich?

Wegner: Erkenntnisse darüber, ob alles, was ich gerade gesagt habe, Unsinn ist. Ich bin Physiker und liebe Experimente.

STANDARD: Süddeutsche.de beschränkt Foren seit einiger Zeit auf einzelne Debattenstränge pro Tag. Können Sie diesem Modell etwas abgewinnen?

Wegner: Das ist wie mit der Demokratie: Sie ist oft sehr ärgerlich und macht große Mühen, ist aber dennoch die beste Form der Repräsentation, die wir haben. So ähnlich sehen wir das mit unseren Userkommentaren. Freie Kommentare zu haben und jeden Artikel kommentierbar zu machen, halten wir für eine Grundvoraussetzung im Diskurs mit unseren Lesern. Es entspricht nicht unserer Haltung, ihnen vorzuschreiben, wann und was sie kommentieren sollen. Dass es für uns viel Arbeit bedeutet, diesen Diskurs zu ermöglichen, nehmen wir mit Freude in Kauf. Wir schaffen es auch, großartige Debatten zu haben. Ich mag es nicht, wenn Userkommentare grundsätzlich schlecht geredet werden, sie sind oft großartig. Wir haben auf zeit.de immer wieder Glanzstunden.

STANDARD: Zum Beispiel?

Wegner: Nehmen Sie Thomas Fischer, Vorsitzender Richter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe, der bei uns eine Rechtskolumne schreibt, die immer wieder für heftige Debatten gut ist. Wenn ein Beitrag von ihm veröffentlicht wird, diskutiert Thomas Fischer oft leidenschaftlich mit. Auch solche Momente sind Sternstunden des Onlinejournalismus, wir würdigen sie nur nicht genug. Ich verstehe Redaktionen, die sich die Mühe nicht mehr machen wollen, ihre Kommentare zu pflegen, oder die diese Kosten scheuen - ich verstehe aber nicht, warum das einige mit Scheinargumenten verbrämen. Kommentare machen Arbeit. Genauso wie Demokratie Arbeit macht. Trotzdem möchte ich nicht in einer Diktatur leben.

STANDARD: Wie große ist das Forenteam von "Zeit Online"?

Wegner: Es gibt zwei Festangestellte und ein großes Team von Mitarbeitern, die uns im Schichtbetrieb unterstützen – 24 Stunden pro Tag.

STANDARD: Und die Postings erscheinen gleich und ohne Filter?

Wegner: Ja, wir moderieren nicht vor und schalten nicht frei. Jeder Beitrag erscheint zunächst, und wir moderieren dann nach. Wird ein Beitrag gelöscht, begründen wir kurz, warum.

STANDARD: In Österreich gab es vor ein paar Monaten eine Initiative, die unter dem Namen "Die Meinungsmutigen" eine Klarnamenpflicht in Foren gefordert hat. Was halten Sie davon?

Wegner: Wer seinen echten Namen nennen will, kann das bei uns sehr gerne tun. Und natürlich ist es mühsam, wenn sich Trolle hundert Mal am Tag mit verschiedenen Identitäten anmelden. Das ist ein Hase-und-Igel-Spiel, meist sind wir der Igel. Es gibt aber auch gute Gründe, warum manche User nicht ihren echten Namen nennen wollen. Durch Pseudonymität kann eine Debatte je nach Thema an Qualität gewinnen. Wir haben unsere User etwa kürzlich gebeten, mit uns über ihre Beziehungsmodelle zu sprechen, daraus ist eine ganze Artikelserie entstanden. Nicht jeder möchte sein Beziehungsleben unter seinem Klarnamen besprechen. Klarnamen im Netz sind ohnehin eine Illusion – es sei denn, wir führen für unsere User das Postident-Verfahren ein, bei dem sie sich mit ihrem Personalausweis identifizieren müssen. Solch ein Community-Account hätte die Sicherheit und den Charme eines Bankkontos. (Oliver Mark, 10.6.2015)