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"Was es heißt, im Dickicht einer US-Metropole zu leben": Saul Bellow, aufgenommen 1997 in seinem Büro in der Boston University, wo er Literatur unterrichtete.

Foto: AP / Elise Amendola

Um zu wissen, wie weit es mit uns gekommen ist, muss man Saul Bellow lesen. Zwar stehen in seinem Erzähl-New York noch die Twin Towers, aber das Personal und die Beweggründe einer zwischen Börsenhitze und Angst vor Arbeitsverlust taumelnden Gesellschaft sind ganz gegenwartsnah. Auch Telefonhäuschen an Straßenecken ersetzen bei ihm noch die Mobilfernsprecher, doch die meisten Menschen sind längst in eine Modernisierungs- und Geldvermehrungsturbine geworfen, die sie zugunsten von einigen wenigen durchschleudert. Zudem spielen viele seiner Geschichten im gebildeten Milieu, wo über die Brüche und Zuspitzungen des gesellschaftlichen Lebens besonders schlagfertig räsoniert werden kann.

Ein Kanadier in den USA

Obwohl in Kanada als Sohn frisch eingewanderter russisch-jüdischer Eltern geboren, ist Saul Bellow einer der amerikanischsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts geworden. Neun Jahre nach seiner Geburt am 10. Juni 1915 war die Familie nach Chicago gezogen. Dort, im osteuropäischen Emigrantenviertel, wuchs der Knabe Saul in Sichtnähe zu den Umschlagplätzen von Alkoholschmuggel und Schieberei auf. Vieles, was er später erzählt hat, spielt in der Stadt am Michigan-See.

Berühmt wurde der Anfang seines Einstanderfolgs Die Abenteuer des Augie March: "Ich bin ein Amerikaner, geboren in Chicago, dieser finsteren Stadt, und ich gehe an Dinge im Freistil heran, so wie ich es mir selber beigebracht habe; und darum werde ich auch in der mir eigenen Art Bilanz ziehen und diesen Bericht schreiben." Es ist eine durch die Wirren von Großer Depression und Weltkrieg gehetzte Aufsteiger- und Siegergeschichte von 1953, die Bellow später so nie mehr schrieb.

Bei Saul Bellow erfährt man, was es heißt, im Dickicht einer amerikanischen Metropole zu leben, getrieben vom verführerischen Ehrgeiz, alles und noch mehr zu erreichen, eingesponnen im Intrigennest der Hochschulen und zurückgeworfen durch Verluste, seien es Ehe, Arbeitsplatz, Selbstvertrauen.

Amerikanisches Metropolenleben

Es wimmelt von Leuten in seinen Geschichten, die sich förmlich ins Geschehen hineinzwängen. Immer Neue und noch mehr kommen hinzu, Käuze, Spinner, hintersinnige Eigenbrötler, geistvolle Selbstdarsteller. Diesen eigentümlichen Heroen der Lebensbewältigung begegnet man wie auf einer Party. Nur dass es bald schon nicht mehr beim Smalltalk bleibt, sondern jeder einen bemerkenswerten Platz in einem Großstadtbiotop voll überraschender Verästelungen und sinnreicher Gegensätzlichkeiten zugewiesen erhält.

Erzählt wird im unverkennbaren Bellow'schen Gesprächston, mit hochfliegenden Ansichten zu den gerade gängigen intellektuellen Moden, mit sarkastischen Abschweifungen in die Themen Mode, Freistil und Erotik - und mit nicht wenigen widersetzlichen Einsprüchen zur gesellschaftspolitischen Entwicklung seines Landes.

"Sehr verehrter Herr Präsident!", schreibt der aufgebrachte Titelheld seines Meisterromans Herzog (1964) in einem imaginären Brief an das Weiße Haus. "Das Leben eines jeden Staatsbürgers wird zum Geschäftsbetrieb. Das ist meiner Ansicht nach eine der schlimmsten Auffassungen vom Sinn des menschlichen Lebens, die die Welt bisher gesehen hat. Das menschliche Leben ist kein Geschäft."

Sehr tiefes Elend

Dieser Moses Herzog ist ein abtrünniger Hochschullehrer: ausgebrannt, in zwei Ehen gescheitert, mit einem unvollendeten akademischen Hauptwerk belastet. Und doch leistet er sich seinen Eigensinn im Urteil über die ihn bedrängenden Verhältnisse: über den Niedergang der Bürgerrechte, Gewalt als politisches Kampfmittel auch seitens des Staats, Polizeistaatmethoden bei der Anhaltung der Bürger. Im Roman Mr. Sammlers Planet (1970), dem Porträt eines Holocaust-Überlebenden in New York, ereifert sich der Protagonist: "Wenn man die gefährliche, ausfällige, wahnwitzige Gewalttätigkeit der Fanatiker hinzurechnete, war das Elend sehr tief ... Man konnte die Fäulnis riechen. Man konnte die selbstmörderischen Impulse der Zivilisation kräftig schieben sehen. Man fragte sich, ob diese westliche Kultur eine universale Verbreitung überdauern konnte - ob nur ihre Wissenschaft und Technologie oder die Verwaltungspraktiken wandern und von anderen Gesellschaften adoptiert werden würden. Oder ob die schlimmsten Feinde der Zivilisation nicht schließlich ihre gehätschelten Intellektuellen sein würden, die sie in ihrem schwächsten Augenblick attackierten ..."

In seinem berühmtesten Roman Humboldts Vermächtnis, der ihm 1976 den Literaturnobelpreis eintrug, setzt er gleich zwei intellektuelle Helden der Donquichotterie einer Selbstfindung aus existenziellen Krisen aus. Es geht um Macht, Anerkennung und den Kampf ums Geld. Der das Geld hat, fühlt sich als Sieger. Doch das ist nicht Bellows letztes Wort. Seine Kritik an der landesweiten Geldverherrlichung wird am eindrucksvollsten in der Novelle Das Geschäft des Lebens deutlich, in der ein vermögender Vater seinem von einem Börsenhasardeur in erdrückende Schuldenlast getriebenen Sohn hartherzig jegliche Rettung verweigert.

Verheerender Kahlschlag

Saul Bellow war ein scharfäugiger Beobachter der Alltagsverhältnisse seiner Zeit, ohne sie zum Hauptgegenstand seiner Erzählkunst zu machen. Der war vor allem der Charakterisierung seiner Protagonisten vorbehalten, seien es Einzelkämpfer mit rasch wechselnden Berufen oder gebildete Exzentriker aus dem US-amerikanischen Hochschulmilieu, dem er selbst entstammte: Der studierte Soziologe und Anthropologe lehrte lange an verschiedenen Universitäten.

Die kulturpolitische Bestandsaufnahme seiner Zeit machte Bellow vor allem an einem wiederkehrenden Thema seiner späteren Romane fest: der Ökonomisierung des Bildungssystems. Früh geißelte er den verheerenden Kahlschlag, den eine einseitig technisch orientierte Ausbildung für die Konfliktbewältigung der Gesellschaft bedeutet. In Alterswerk Ravelstein (2000), dem berührenden Epitaph für seinen verstorbenen Chicagoer Freund und Universitätskollegen Allan Bloom, heißt es: "Wir hatten uns der High-Tech unterworfen ... An amerikanischen Universitäten war eine richtige Ausbildung nicht mehr möglich, es sei denn, man wollte Raumfahrtingenieur, Computerspezialist oder so etwas werden. In Biologie und Physik waren sie hervorragend, in den Geisteswissenschaften eine Katastrophe."

Gesellschaftskenntnis lernen

Dem setzte Bellow Bildung als Lebenswert entgegen: gegenwärtig gemachte Erfahrungen, die auf philosophischen Einsichten und literarischem Wissen sowohl aus der Geschichte als auch dem Heute gründen und das Verständnis von politischen wie privaten Vorgängen erst möglich machen.

Diesem Ziel war, bis zu seinem Tod 2005, auch sein Schreiben gewidmet. Die Lektüre Saul Bellows stärkt die Menschen- und Gesellschaftskenntnis. Sie feiert das Unverfügbare des Lebens gegenüber dem rein materiellen Kalkül. Das ist genug an ökonomischem Mehrwert. (Oliver vom Hove, Album, 6.6.2015)