Istanbul – Beyoglu ist voll, 100 Prozent, Besiktas und Kadiköy sowieso, der konservative Stadtteil Fatih immerhin schon zu 75 Prozent. Doch anderswo in der Millionenmetropole Istanbul fehlen noch viele Wahlbeobachter: in den Arbeiter- und AKP-Hochburgen am Stadtrand oder im reichen Arnavutköy am Bosporus. "Oy ve Ötesi", die türkische Bürgerrechtsgruppe, sucht über die sozialen Medien noch rasch weitere Freiwillige. "Stimme und Danach" heißt ihr Name übersetzt.

Denn mit der Zeit gleich nach der Schließung der Wahllokale und dem Beginn der Stimmauszählung gibt es in der Türkei Probleme. "Wir trauen der Regierung nicht", erklärt Sinem Göksu, eine 45-jährige Angestellte, die bei Oy ve Ötesi mitmacht. Wochenlang gab es nach den Kommunalwahlen im März des vergangenen Jahres heftigen Streit, ausgetragen auf der politischen Bühne und vor Wahlkommissionen.

Mysteriöser Stromausfall

Einige wenige Wahlen wurden wegen Unregelmäßigkeiten wiederholt, andere Ergebnisse blieben ungeklärt wie etwa der hohe Sieg von Ankaras AKP-Bürgermeister Melih Gökcek in einem Innenstadtbezirk, der traditionell eine Hochburg der Opposition ist. In der Wahlnacht war dazu noch während der Auszählung der Strom in mehreren Großstädten ausgefallen - in Gaziantep im Osten, in Eskisehir im Westen und in einigen Vierteln in Istanbul -, was den Verdacht vieler Türken nährte, die Wahlergebnisse würden manipuliert. Energieminister Taner Yildiz gab später an, eine Katze habe sich in ein Umspannwerk eingeschlichen und einen Kurzschluss verursacht. "Kein Witz", betonte der Minister damals.

Erbe von Gezi

Oy ve Ötesi hat seither seine Struktur ausgebaut und sich als Verein registrieren lassen. Gegründet wurde die Gruppe nach den Protesten um den Istanbuler Gezi-Park vor zwei Jahren. 120.000 Freiwillige sollen landesweit die Parlamentswahlen an diesem Sonntag beobachten, so wünschte sich Sercan Çelebi, einer der Gründer der Gruppe; am Ende wird es aber vielleicht gerade einmal ein Viertel davon sein.

Die Beobachter von Oy ve Ötesi können aus rechtlichen Gründen nicht im Namen ihres Vereins in die Wahllokale gehen; kleine Parteien, die ohnehin chancenlos sind, treten dafür ihren Anspruch auf Beobachter an die Gruppe ab. Die Freiwilligen von Oy ve Ötesi sind dabei, wenn Urnen geöffnet und die Stimmen gezählt werden. Ihre Ergebnisse vergleichen sie dann mit den offiziellen. Für Senim Göksu ist das wichtig: "Als Bürger ist es ein Schritt mehr, den ich tue. Ich gebe nicht nur meine Stimme ab, ich kontrolliere auch, was mit ihr passiert." (Markus Bernath, 5.6.2015)