Das Internet hat einen riesigen, ständig wachsenden Markt erschlossen. Man könne jetzt aus einem Vorort von Wien die ganze Welt erreichen, so Hendrik Brandis. Das nötige Kleingeld fehlt allerdings.

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STANDARD: Was hat sich in den letzten Jahren in der Venture-Capital- und Start-up-Szene getan?

Brandis: Ich glaube, die Welt hat sich hier fundamental verändert. Und der wesentliche Treiber dieser Veränderung ist die Verbreitung des Internets. Rund 3,5 Milliarden Personen sind heute online, das ist ein riesiger Markt, der sich auch noch stetig ausbreitet. Das macht natürlich einen wahnsinnigen Unterschied zu früher, wo wir vor allem in Europa kleine, fragmentierte Märkte hatten. Wenn ich heute ein Unternehmen gründe, erreiche ich die Welt aus einem Vorort von Wien genauso gut wie aus San Francisco.

STANDARD: Wie macht sich das in den Zahlen bemerkbar?

Brandis: Zur Veranschaulichung: In der Dekade von 2000 bis 2010 sind lediglich drei Venture-finanzierte Milliardenunternehmen in Europa entstanden, nämlich Skype, MySQL und Autonomy. In den vier Jahren von 2011 bis 2014 waren es bereits 24.

STANDARD: Für den Börsengang blicken aber auch europäische Unternehmen noch immer in die USA. Was muss passieren, damit Unternehmen in Europa bleiben?

Brandis: Es gibt einige Gegenbeispiele mit Zalando und Rocket Internet, die in Frankfurt gelistet sind. Aber ich gebe Ihnen grundsätzlich recht. Die Liquidität der Technologiemärkte ist in den USA auf einem anderen Stern. Das gilt auch für die Risikobereitschaft der Anleger.

STANDARD: Scheitert es hier an den institutionellen Rahmenbedingungen in Europa? Die Bankenfinanzierung überwiegt hier noch stark.

Brandis: Das stimmt, und das ist auch ein Problem. Die Bilanzen von Unternehmen werden immer stärker von immateriellen Vermögenswerten wie Know-how oder Software bestimmt, und die sind praktisch nicht fremdfinanzierbar. Diese Fremdfinanzierungskultur kann wirklich problematisch für die Wirtschaft werden. Aber ich würde die Hypothese aufstellen, dass das derzeitige Nullzinsumfeld auch Europäer vermehrt in Aktien treiben wird, denn was will man sonst machen?

STANDARD: Wie sieht der europäische Venture-Capital-Markt aus?

Brandis: Traurig. In Europa werden pro Jahr ca. 3,5 Milliarden Euro in Venture-Capital investiert. In den USA waren es im Vorjahr 40 Milliarden Dollar, 2013 rund 22. Da hinken wir enorm hinterher. Wir befinden uns in der Situation, dass die Kommerzialisierung von Innovationen in Europa drastisch unterfinanziert ist. Und darin liegt der eigentliche Grund, warum aus der an und für sich guten Technologiebasis in Europa vergleichsweise wenige führende Technologieunternehmen entstanden sind. Jetzt einmal ehrlich: nur SAP in den letzten 30 Jahren. Kein Google, kein Amazon, kein Facebook - ein Albtraum! Das liegt nicht daran, dass wir keine Unternehmer haben oder dass uns das Know-how fehlt. Das liegt schlicht daran, dass wir nicht in der Lage sind, das notwendige Kommerzialisierungskapital auf die Beine zu stellen.

STANDARD: Gefühlsmäßig tut sich hier in Wien in letzter Zeit einiges in der Gründerszene. Wie schätzen Sie die Situation ein?

Brandis: Das Gefühl habe ich auch. Es wird besser. Aber die Wachstumsfinanzierung in Wien, wie auch in Deutschland, muss noch verbessert werden. In Wien ist es möglich, ein bis zwei Millionen am Anfang in ein Start-up zu investieren. Aber es muss dann auch möglich sein, nach zwölf Monaten nochmal zehn Millionen und nach 24 Monaten nochmal 30 Millionen hineinzustecken. Und da sehe ich hier noch Aufholbedarf.

STANDARD: Die sonstigen Rahmenbedingungen sind aber günstig?

Brandis: Also über Regulatorien kann man natürlich immer meckern, aber das ist hier nicht der springende Punkt. Auch das notwendige Know-how ist vorhanden. Meine feste Überzeugung ist, dass es einfach an der Kapitalisierung mangelt.

STANDARD: Eine abschließende Einschätzung: Wie beurteilen Sie das volkswirtschaftliche Potenzial der Start-up-Szene ein?

Brandis: Da müssen wir uns einfach einmal wenden und in die USA blicken und uns anschauen, wer dort die volkswirtschaftlichen Treiber sind und welche Rolle die Googles, Facebooks und Ubers spielen. Da wird einem schnell klar, wie wichtig das ist. Wir müssen hier auf dem Alten Kontinent dringend eine industrielle Basis in diesem neuen Wirtschaftsraum schaffen. Die Basis, auf der wir sitzen, ist die Basis von gestern. Und wenn wir nicht in unserem Wohlstand dramatisch zurückfallen wollen gegenüber den anderen Staaten, dann wird es allerhöchste Eisenbahn. Aber das ist ja kein Geheimnis, das weiß jeder. Das Problem wird erkannt, aber ich sehe wenig faktische Änderung. Und das besorgt mich. (Andreas Maschke, 5.6.2015)