Um den Anteil an Betroffenen von Essstörungen der Personen über 65 Jahre zu erfassen, mangelt es derzeit an Daten. Bis auf wenige Ausnahmen sind bisher kaum Studien dazu gemacht worden.

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Wr. Neustadt - Gefangen zwischen der "Gewichtsphobie" und dem großen Hunger, zwischen einem immensen Genussbedürfnis und einem starken Körperbewusstsein: Die Magersucht (Anorexia nervosa) und die Essbrechsucht (Bulimia nervosa) gelten gemeinhin als Krankheit junger Menschen, vor allem von jungen Frauen. "Es ist noch nicht so lange her, dass eine 35-Jährige mit Essstörung als eine spät Betroffene angesehen wurde", sagt die Klinische Psychologin Karin Waldherr. Doch diese Betrachtungsweise greife zu kurz: "Essstörungen treten auch noch im hohen Alter auf." Das Problem sei lange unterschätzt worden, meint die Präsidentin der Österreichischen Gesellschaft für Essstörungen.

Zu wenige Daten

Noch ist es schwierig, den Grad der Betroffenheit im hohen Alter und entsprechende Trends zu erfassen. Dazu mangelt es an Studien, die Personen von 65 Jahren plus berücksichtigt haben. Eine von wenigen Ausnahmen: Eine nicht repräsentative Untersuchung der Medizinischen Universität Innsbruck hat 2006 gezeigt, dass 3,8 Prozent der befragten 60- bis 70-jährigen Frauen (475 Befragte) laut eigenen Angaben an einer Essstörung litten. Waldherr verweist zudem auf Berichte aus der Praxis: "Die auf Essstörungen spezialisierten Einrichtungen beobachten, dass heute auch häufiger ältere Menschen mit Essstörungen ihre Hilfe aufsuchen."

Seit ihrer Diplomarbeit beschäftigt sich Karin Waldherr mit dem Thema Essstörungen, zuletzt als Forscherin am Wiener Ludwig-Boltzmann-Institut "Health Promotion Research". Als Leiterin des neuen Studiengangs "Aging Services Management" an der Ferdinand-Porsche-Fern-FH, eine Tochter der Fachhochschule Wiener Neustadt, befasst sich die Psychologin nun mit der Lebensqualität im Alter.

"Wenn Essstörungen im hohen Alter auftreten, glauben die Betroffenen oft, es handle sich um ein neues Phänomen", sagt Waldherr. "Doch im Gespräch mit den Erkrankten sieht man häufig, dass es bereits früher einmal ein Problem gegeben hat." Die Betroffenen hätten sich zumindest schon intensiv mit Diäten oder Figurproblemen beschäftigt.

Eine "Epidemie der Unsicherheit" haben vor einigen Jahren britische Experten in einem Zeitungsbericht bei den über 70-Jährigen ihres Landes diagnostiziert. Eine wachsende Anzahl leide an einem geringen Selbstbewusstsein und Ängsten in Bezug auf ihr Altern und Aussehen.

Ein Psychiater vom Priory Hospital in Glasgow berichtete in diesem Zusammenhang von einem alarmierenden Anstieg von Essstörungen bei älteren Patienten. Dabei tritt laut Waldherr die sogenannte "Binge-Eating-Störung" im Erwachsenenalter häufig auf - also Essanfälle ohne Erbrechen.

Den ersten Fall beschrieb der US-amerikanische Psychiater A. J. Stunkard bereits 1959. Der krankhafte Verzehr von Tausenden von Kalorien steht nicht selten im Zusammenhang mit Übergewicht oder Adipositas. Lange ging das Binge-Eating im großen Pool der "nicht näher bezeichneten Essstörungen" unter. Seit 2013 wird es offiziell als Essstörung im US-amerikanischen Psychiatrie-Handbuch "DSM 5" geführt. Das Auffällige daran: Binge-Eating betrifft Frauen und Männer gleichermaßen. "Vor allem die Bulimie und das Binge-Eating sind extrem schambesetzt. Die Essanfälle passieren im Geheimen. Da sind auch die gesellschaftlichen Diskussionen wenig hilfreich, dass wir einen falschen Lebensstil führen, weniger essen müssen, uns mehr bewegen müssen. Natürlich ist ein gesunder Lebensstil wichtig - aber man darf nicht übersehen, dass der Grund für Übergewicht eine Essstörung sein kann", sagt Waldherr. Die suggerierte Eigenverantwortung treibe die Betroffenen noch tiefer in den Teufelskreis.

Vielfältige Ursachen

Das gestörte Verhältnis zum Essen hat viele Ursachen. Zu psychischen Problemen und Veranlagung gesellen sich, so Waldherr, auch gesellschaftliche Faktoren: der "allgemein suggerierte Schlankheitsdruck" und der Diätenwahn als "Nährboden für Essstörungen". Auch traumatische Erlebnisse wie sexueller Missbrauch sind bekannte Risikofaktoren. Essstörungen verlaufen oft chronisch. Sie gehen mit schwerwiegenden körperlichen Folgeerkrankungen einher. "Gerade im Alter sind Folgen wie die Knochenerkrankung Osteoporose fatal im Hinblick auf Lebensqualität", sagt Waldherr.

Doch insbesondere bei älteren Patienten würden Ärzte bei bestimmten Symptomen - zum Beispiel der starken Gewichtsabnahme oder -zunahme - eher selten eine Essstörung als mögliche Ursache in Betracht ziehen. "Langsam wächst das Bewusstsein, dass Essstörungen auch im hohen Alter ein Problem sein können", so die Psychologin. Doch es brauche "verstärkte Informationsmaßnahmen" für das Pflegepersonal und die Ärzte, die damit konfrontiert sind - sowie weitere Forschung in diesem Bereich. (Lena Yadlapalli, 3.6.2015)