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Johann Wolfgang von Goethes "Italienische Reise" ist ein Literaturklassiker. Nördliche Italiensehnsucht hat jedoch mit der Lebensrealität der Italiener nichts zu tun, weiß unser Autor Clemens Wittwehr.

Foto: EPA/Roland Holschneider

Goethe ist schuld. Hätte der Geheimrat seine Begeisterung für das Land, in dem die Zitronen blühen, für sich behalten, würden sich nicht Millionen von deutschsprachigen Menschen verpflichtet fühlen, Jahr für Jahr den Brenner oder das Kanaltal zu überwinden, ins Dolce Vita einzutauchen, Gelato zu essen, Chianti zu trinken und überhaupt alles, was Italienisch spricht, ausschaut oder schmeckt, ganz einfach toll zu finden.

Goethes Schwärmerei und ihre Folgen waren wohl auch dafür verantwortlich, dass ich vor mehr als 15 Jahren mit meiner Frau und meiner damals zweijährigen Tochter in Italien gelandet bin. Durch zahlreiche Sommerurlaube in Italien bestens versorgt mit allerlei italophilen Gemeinplätzen, ergriffen wir im Jahr 2000 die Gelegenheit beim Schopf, als mir in einem EU-Forschungszentrum am Lago Maggiore ein attraktiver Job angeboten wurde. So brachen wir unsere Zelte in Luxemburg ab, wo wir drei schöne Jahre verbracht hatten, und stürzten uns ins italienische Abenteuer.

Nie den Optimismus verlieren

Um es kurz zu machen: Kaum eine der naiv-nördlichen Träumereien hält der italienischen Wirklichkeit stand. Preis-Leistungs-Verhältnis für Wohnraum: ein Desaster. Zustand der Infrastruktur: eine Katastrophe. Alltagsbürokratie: ein Albtraum. Qualität von Dienstleistungen aller Art: zum Vergessen. Selbst die dem Touristen so unangreifbar scheinende italienische Gastronomie entpuppt sich dem Zuwanderer rasch als eine Endlosschleife immer gleicher Gerichte.

Nachdem wir unsere rosarot-romantische Brille also rasch entsorgt hatten, hatten wir endlich freie Sicht auf Land und Leute und konnten beginnen, Italien so zu sehen, wie es wirklich ist: als ein Land, dessen hart arbeitende Menschen, all den erwähnten Unzulänglichkeiten zum Trotz, ihren Optimismus kaum je verlieren, die viele Widrigkeiten wegstecken und uns in ihrer Unverdrossenheit angesichts der täglichen kleinen kafkaesken Schicksalsschläge zum Vorbild wurden.

Die Post kommt schon seit 14 Tagen nicht mehr? Ist doch egal, dann kommen auch keine Rechnungen! Der Strom fällt beim kleinsten Gewitter aus? Macht nichts, Elektrizität ist eh so teuer! Der Bahnschranken ist, zehn Minuten nachdem der Zug durchgefahren ist, immer noch zu? Was soll's, eine kleine Verschnaufpause im Verkehrsstress kann nicht schaden. Österreichisches Sudern und Granteln ist den meisten Italienern fremd – das Leben ist zu kurz, um Unveränderliches zu kommentieren.

Bambini bei den Großeltern

Inzwischen war unsere zweite Tochter zur Welt gekommen (vorsichtshalber im eine Autostunde entfernten schweizerischen Lugano), und wir gingen daran, für eine möglichst zweisprachige Erziehung unserer Kinder zu sorgen. Wir brachten die beiden in einem Kindergarten in unserem lombardischen Dorf unter, um ihnen eine möglichst authentische Erfahrung unserer Wahlheimat zu ermöglichen. Der intensive Kontakt mit den Eltern der anderen Kinder führte uns den harten Alltag, den die meisten Italiener zu bewältigen haben, eindringlich vor Augen: Fast immer arbeiten beide Elternteile, weil anders der Lebensunterhalt nicht bestritten werden kann. Wesentlich niedrigere Löhne: 1.000 Euro netto im Monat für Vollzeit sind keine Seltenheit. Extrem hohe Kosten: abenteuerliche Mieten, teures Benzin, völlig verrückte Versicherungsprämien und so weiter. Eine Kombination, die unsere Hochachtung vor der stoischen Haltung der Italiener wachsen ließ.

Wird in einer Familie ein Sohn geboren, war's das dann, und die dreiköpfige Familie bleibt, wie sie ist. Wird eine Tochter geboren, gönnen sich viele noch einen zweiten Versuch auf einen Sohn. Dann ist aber endgültig Schluss, damit die Mutter so rasch wie möglich zurück an den Arbeitsplatz kann. Ohne Nonni – die Großeltern passen in den ersten Jahren auf die Bambini auf – läuft dann meist gar nichts.

Familiärer Zirkel

Der große Rückhalt der Italiener ist und bleibt ihre Familie und ein Kreis enger Freunde. An alles, was außerhalb dieses Zirkels liegt, wird kaum Energie oder Ressourcen verschwendet. Was eine plausible Erklärung für den bedauernswerten Zustand des öffentlichen Raums ist. Lieblos angelegte öffentliche Plätze und der sorglose Umgang mit ihnen sind ein deutliches Zeichen dafür, dass die ganze Aufmerksamkeit der Italiener ihrem inneren Zirkel gilt. Gelingt es, in einen solchen Zirkel aufgenommen zu werden, kann man hautnah erleben, wie die italienische Gesellschaft funktioniert: als Netzwerk von Beziehungen zwischen Menschen, die möglichst abseits der – meist misstrauisch beäugten – staatlichen Strukturen einander mit kleinen Hilfestellungen, Tipps, Tricks und so weiter unterstützen.

Italienische DNA

Frag einen Italiener, wo in der Gegend man am besten Winterreifen kauft: Er weiß von genau einer Werkstatt, die er empfiehlt, mit dem Hinweis: "Sag, dass ich dich schicke!" Dieses Prinzip des informellen quid pro quo ist tief in der italienischen DNA verankert und auch die Erklärung für viele Phänomene, die dem Touristen seltsam erscheinen: Niemand gibt in Italien Trinkgeld, niemand erwartet welches: Klar, warum sollte man seine (pekuniäre) Gunst an jemanden verschwenden, der außerhalb des eigenen Zirkels steht? Websites von italienischen Kleinunternehmen, etwa Restaurants oder Handwerkern, enthalten, falls überhaupt vorhanden, kaum nützliche Informationen wie Öffnungszeiten, und falls doch, dann meist völlig veraltete. Klar, warum sollte man Geld und Zeit an die Pflege einer Website verschwenden, wenn dann doch wieder alles über Empfehlungen im Familien- und Freundeskreis läuft?

Keine Zukunft in Italien

Meine Töchter besuchen mittlerweile eine internationale Schule in der Provinzhauptstadt. Dort gilt Italienisch zwar als Lingua franca am Schulhof und im Schulbus, das Hauptaugenmerk wird jedoch auf die Ausbildung in Deutsch und Englisch gelegt. Italienisch ist für meine Töchter nur noch Drittsprache, gefolgt von Französisch. Was ich auch gut finde, denn mit ihrer deutschen Muttersprache und ihrem mittlerweile (annähernd) muttersprachlich-äquivalenten Englisch werden sie ein Studium oder eine Arbeitslaufbahn außerhalb Italiens wesentlich besser bewältigen als mit perfektem Italienisch. Denn dass ich für sie kaum eine Zukunft in Italien sehe, liegt auf der Hand: Die schwächelnde italienische Wirtschaft sowie die immer noch latente Diskriminierung von Frauen im Arbeitsleben lassen ein Leben in Italien für sie kaum erstrebenswert erscheinen.

La vita è bella

Nach 15 Jahren Italien kann ich sagen: Uns geht's echt gut in unserer Expat-Bubble. Den Widrigkeiten des italienischen Alltags (Niedriglöhne, kaum Sozialleistungen usw.) entgehen wir aufgrund meiner Beschäftigung bei einer internationalen Organisation weitgehend, und so können wir uns die Rosinen aus Italien herauspicken: das im Allgemeinen doch bessere Wetter, die Nähe zu vielen Orten, für die andere weite Urlaubsreisen in Kauf nehmen, eine uns gegenüber tolerante Bevölkerung und die immense Bereicherung, die ein nichtdeutschsprachiger Alltag mit sich bringt.

"O Sole Mio" hat so viel mit der italienischen Realität zu tun wie "Sound of Music" mit Österreich. Hat man das verinnerlicht und weiß man damit umzugehen, kann man Roberto Begnini recht geben: La vita è bella. (Clemens Wittwehr, 4.6.2015)