"Die Brüder Karamasow" bei den Wiener Festwochen: Marc Hosemann als Dmitrij Fjodorowitsch Karamasow und Kathrin Angerer als Agrafena Alexandrowna Swetlowa – Gruschenka.

Foto: Thomas Aurin

Wien – Der Romankoloss "Die Brüder Karamasow" stellt so etwas wie die Quersumme von Fjodor Dostojewskis Bemühungen dar. Unzählige Figuren ergehen sich wortreich in Bekenntnissen, die ihr unmittelbares Seelenheil betreffen. Die geschilderte Kriminalgeschichte enthält unzählige Denksportaufgaben für Köpfe, die um den Glauben ringen. Vatermord, Gedankenverbrechen sind zwei mögliche Einträge im Schuldenbuch. In Wahrheit propagiert Dostojewski natürlich die Sache der russischen Orthodoxie.

Orthodox wird man Frank Castorfs Volksbühnen-Theater nicht nennen wollen. Doch spricht manches dafür: Irgendwo weit draußen, in den Weiten Atzgersdorfs, liegt das verlassene Fabrikgelände F23. In eine der dortigen Hallen hat Ausstatter Bert Neumann ein paar Zaunspaliere hingebaut. Die wunderbaren Volksbühnen-Schauspieler verschwinden die meiste Zeit über in langen Gangfluchten, oder sie queren brüllend und Wortschaum schlagend den malerisch verödeten Hof.

Der wahre Beichtvater in dieser knapp siebenstündigen Veranstaltung ist die Handkamera. Wie eine göttliche Instanz folgt sie den Zweiflern und Dampfplauderern auf allen deren Wegen. Das Mikro hängt am Galgen darüber, Momente von quälender Redundanz folgen auf Ausbrüche des herrlichsten Wahnsinns. Der Übertragungsschirm auf der Bühne bildet die synthetisierende Maschine. So weit, so Volksbühne.

Was als neue Castorf-Qualität zur Nachdenklichkeit verleitet, ist ein ideengeschichtliches Moment. Diese (unbedingt sehenswerte) Festwochen-Produktion erklärt dem Kapitalismus den Krieg und bedient sich dabei ausgerechnet des Moderne-Hassers Dostojewski. Man wird diese Koalition aus Anarchismus und Ost-Spiritualismus zumindest als fragil bezeichnen dürfen.

Es wird weniger gelacht als sonst. SchauspielerInnen wie Kathrin Angerer, Alexander Scheer oder Daniel Zillmann (als glaubenshungriger Aljoscha Karamasow) rechtfertigen hingegen fast jeden Superlativ. Erschöpfter Applaus gegen ein Uhr nachts. (Ronald Pohl, 30.5.2015)