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"Nirgendwo in der Welt habe ich so viele, so hübsche und so freie Kinder gesehen": Heinrich Böll über Irland.

Foto: Corbis/Sophie Bassouls

Heinrich Bölls Schreibtisch.

Foto: Richard Wall

Ansicht auf Achill Island.

Foto: Richard Wall

Das ehemalige Haus des Nobelpreisträgers, das heute Stipendiaten beherbergt.

Foto: Richard Wall

Binnen eines Jahres kamen zwei Filme in die Kinos, durch die einige Lichtbündel auf die Schattenseiten der patriarchalen irischen Gesellschaft und des irischen Klerus geworfen werden: Philomena von Stephen Frears (2013) und Jimmy's Hall von Ken Loach (2014). In dem einen Film wird anhand eines authentischen Falls der bis in die 70er-Jahre des 20. Jahrhunderts reichende Umgang mit ledigen Müttern und Opfern von Vergewaltigungen thematisiert: junge Frauen, die "Schande" über die Familie gebracht hatten, wurden in den katholischen Magdalenen-Wäschereien auf unbestimmte Zeit festgehalten.

Jimmy's Hall bezieht sich auf das gesellschaftliche Engagement des Arbeiters James "Jimmy" Gralton, der Anfang der 30er-Jahre - nach harten Arbeitsjahren in den Docks von Liverpool, in den Kohlengruben von Wales und als Gelegenheitsarbeiter in den USA - in Effrinagh, County Leitrim, eine nach den irischen Freiheitskämpfern James Connolly und Patrick Pearse benannte Halle betrieb, die vorwiegend Tanzveranstaltungen, aber auch Debatten über die ungerechte Landverteilung, dem Lesen und Interpretieren von Gedichten etc. diente.

Nach einer massiven und miesen Kampagne lokaler Priester wurde Gralton, unter Mithilfe der regierenden Fianna-Fall-Partei, verhaftet und ohne Gerichtsverfahren des Landes verwiesen. Zur selben Zeit, da hunderte zumeist junge Mütter in den Magdalenen-Wäschereien Zwangsarbeit verrichten mussten und deren Kinder an Adoptiveltern verkauft wurden, berichtet Heinrich Böll in seinem Bestseller Irisches Tagebuch begeistert über den irischen Katholizismus und die Gläubigkeit der Iren.

Noch ein "Bäckerdutzend Jahre" nach seinem ersten Aufenthalt schrieb er Bezug nehmend auf die Veränderungen auf der Grünen Insel und diese bedauernd: "... und ein gewisses Etwas hat seinen Weg nach Irland angetreten, jenes ominöse Etwas, das man in der englischsprechenden Welt THE PILL nennt - und dieses Etwas lähmt mich vollends; die Aussicht, dass in Irland weniger Kinder geboren werden können, ist für mich niederschmetternd;" (Dreizehn Jahre später, 1967)

Wahrscheinlich wusste Böll, der sich in einem Brief an Arno Schmidt "betroffen" über dessen "Atheismus" äußerte (1956 wollte Schmidt nach Irland auswandern und stand auch wegen seines Romans Das steinerne Herz mit Böll in Verbindung, der diesen auch unter dem Titel Das weiche Herz des Arno Schmidt rezensierte), nichts vom Umgang der Gesellschaft mit "gefallenen Mädchen" und von der militanten Autorität des irischen Klerus. Aus heutiger Sicht befremdet jedenfalls seine enthusiastische Einstellung zum irischen Katholizismus.

Bemerkenswert auch eine andere Stelle: "Nirgendwo in der Welt habe ich so viele und so hübsche und so freie Kinder gesehen, und die Aussicht, dass Ihrer Majestät THE PILL gelingen wird, was allen Majestäten Großbritanniens nicht gelang, die Anzahl der irischen Kinder zu verringern, erscheint mir keineswegs erfreulich" - Eine derartige Aussage grenzt an Zynismus: Da Böll immer wieder angab, viel über Irland gelesen zu haben, müsste er doch zumindest über die Hungersnöte, in deren Verlauf auch zehntausende Kinder verhungerten, informiert gewesen sein (den Iren blieb nur die Kartoffel als Nahrungsmittel, Fleisch und Getreide wurde von den Engländern exportiert).

Böll Cottage auf Achill Island

Nun sitze ich im Böll Cottage auf Achill an seinem Schreibtisch, blättere immer wieder in seinen Büchern, für die er mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, und lese in seinen von Begeisterung sprühenden Briefen, die er aus Irland nach Hause geschickt hat.

Böll pflegte Fragen nach dem Motiv für seine Irlandreise mit dem Hinweis auf den abgeschlossenen Hausbau in Köln-Müngersdorf und der daraus resultierenden physischen wie finanziellen Erschöpfung zu beantworten: "Mitte der 50er-Jahre bin ich nach Irland geflohen. Ja es war eine Flucht, weil ich mich in Köln durch einen Hausbau hoch verschuldet hatte und Ruhe vor meiner Familie brauchte." (Deutsch: ungenügend, Zeit-Magazin, 3. 11. 1978)

Böll kaufte das Cottage in Dugort auf Achill 1958. Dugort, irisch Dumha Goirt, Schwarzes Feld, hat wohl den Namen vom Moorboden, der, kultiviert mit Sand, Muschelkalk und Tang, fruchtbare Felder ergab. Das Cottage liegt am äußersten südlichen Rand des Dorfes, an der ansteigenden Straße nach Keel, etwa einen Kilometer vom Strand entfernt.

Zum Hauskauf schrieb er in einem Brief an seinen Vater und seine Schwester "Tilde": "Unser neues Haus (...) hat Holzböden, ein Bad - eine riesige Garage - & 6 Morgen Land - es wird mir mit Möbeln & Reparatur etwa 10 000 Mark kosten. Hier ist der Grundriss." Auf dem ist zu sehen, dass zwei Schlafzimmer, Stube und Küche vorhanden waren, insgesamt rund 70 Quadratmeter Wohnfläche. Nun ist das Haus etwa doppelt so groß, parallel zum Altbau wurden in einem U-förmigen Grundriss noch ein Schlaf- und ein Arbeitsraum sowie ein helles Atelier dazugebaut.

Bis 1967 kam Böll nahezu jedes Jahr (in Dugort schrieb er 1962 einen großen Teil des Romans Ansichten eines Clowns). Das letzte Mal, 1983, zwei Jahre vor seinem Tod, hielt er sich nur noch vom 12. bis zum 23. Mai in seinem Cottage auf. 1992 wurde auf Initiative des auf Achill geborenen Dichters John F. Deane, der Witwe Annemarie Böll und des Sohnes René das Böll-Komitee gegründet, mittlerweile heißt die für die Auswahl der Stipendiaten zuständige Organisation Heinrich Böll Association.

Das Wetter wechselt hier ständig: Nach einem Regenschauer kommt zumeist die Sonne durch mit einem Licht, das die bereits chlorophyllfreie Moor- und Heidevegetation rostrot aufflammen lässt. Nach einen Sturm, der gut zwölf Stunden dauerte, konnte ich nach dessen Abklingen am Strand unten schon wieder vor dem Tosen der hereinrollenden Brecher in der Sonne sitzen.

Vom altehrwürdigen Schreibtisch aufblickend habe ich eine gestutzte, von Brombeerranken durchwirkte Hecke vor mir, dann das Tal, das sich hinunterzieht zur Bucht vor Dugort mit den Hügeln von Westmayo im Hintergrund. Saftiges Grün von Schafweideland, eingezäunt oder von Steinmauern umgeben, begleitet von Stechginstergrün und blattlosen Fuchsien, die letzten Blüten regendurchnässt: Deora Dé, die Tränen Gottes - ein Bild, das Böll vielleicht gefallen hätte, doch sein Interesse an der irischen Sprache hielt sich in Grenzen.

Nicht zu sehen von hier ist die St.-Thomas-Kirche unten im Tal, der neogotische Sakralbau der evangelischen "Mission", wie sie noch immer genannt wird. Vor allem in Zeiten des Hungers wurden die Iren - gleich den indigenen Völkern Afrikas oder Asiens - von protestantischen Bibelgesellschaften und der Church of England missioniert: Poor dear Paddy, wenn du protestantisch wirst, bekommst du eine Suppe!

Von den Beharrlichen wurden die Bekehrten als "Soupers" bezeichnet, und wenn sie später wieder in den Schoß der katholischen Kirche zurückkehrten, nannte man sie spöttisch "Jumpers". - Die "Mission" auf Achill war in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine regelrechte Kolonie mit Sitz in Dugort, und zwar, wenn man vom Böll-Cottage zur Bucht hinunterblickt, auf der linken Talseite (Böll erwähnte diese bis heute andauernde Spaltung mit keinem Wort). Nach einem rechtwinkligen Raster und genauen Plänen wurden Wohnhäuser errichtet, eine Schule, ein Waisen- und ein Gästehaus.

Einstiger Arbeitsplatz

In den ersten Jahren nach der Umwidmung des Cottage in eine Residence für Künstler und Schriftsteller dürfte es zu einigen unliebsamen Begegnungen zwischen den hier in Ruhe arbeiten wollenden Schriftstellern und Besuchern, die das Böll Cottage sehen wollten, gekommen sein. In Claire Keegans Erzählung The Long and Painful Death (in Walk the Blue Fields, deutsch unter dem Titel Durch die blauen Felder erschienen) kommt eine weibliche Erzählerin ins Böll Cottage; sie freut sich schon auf ungestörte 14 Tage und ihre Arbeit. Bevor sie noch mit dem Schreiben beginnen kann, erfolgt ein Anruf; ein Mann, der sich für einen Literaturprofessor aus Deutschland ausgibt, möchte das Haus besichtigen.

Sie lehnt vorerst ab, gewährt ihm jedoch, da er darauf besteht, das Cottage sehen zu wollen, einen Termin zu einem späteren Zeitpunkt. Sie bereitet Kuchen und Kaffee, doch der Gast erweist sich als unsensibel, ja beleidigend, und gar nicht an Informationen über Bölls einstigen Arbeitsplatz interessiert. Er wirkt frustriert und krank, isst fast den ganzen Kuchen auf und scheint das Haus nicht mehr verlassen zu wollen. Schließlich gelingt es ihr, ihn loszuwerden.

Endlich allein, setzt sich die Erzählerin an Bölls einstigen Schreibtisch und arbeitet den ersten Tag auf der Insel und das Erlebnis mit dem Besucher literarisch auf. Sie schreibt bis zum Morgengrauen durch, und in ihrem Ärger lässt sie den Professor am Ende der Erzählung an Krebs sterben. Nun ist eine Tafel neben dem Eingangstor angebracht: "Heinrich Böll Cottage / Das ist ein privater Ort, bitte respektieren Sie die Ruhe der Gäste und Künstler, die hier für einige Wochen leben und an ihren Werken arbeiten. / Danke." (Richard Wall, Album, 30.5.2015)