Es ist ein beklemmendes Gefühl, zu einem ersten Zusammentreffen mit Befreiern und Befreiten von Dachau zu fahren. Noch dazu am Nockherberg, dem Olymp der bayrischen Bierseligkeit. Geschuldet ist dies dem Umstand, dass die Gäste im wenig entfernten Hotel untergebracht sind. Und halt nur wenig mobil. Dann kommen sie. Mit ihren Angehörigen, die sie auf dieser schwierigen Reise in die eigene Vergangenheit begleitet haben. Vielen von ihnen sieht man ihr Alter nicht an. Die Stimmen sind klar, und Erzählen ist das, was sie noch tun wollen in ihrem Leben. Berichten von dem, was sie gesehen und durchgemacht haben.
Erinnerungen festhalten
Joshua Kaufman (87), ein Überlebender aus Debrecen, fragt gleich nachdem wir einander vorgestellt wurden, ob ich Jude sei, ich verneine, und er küsst mich. Was wir hier tun, nämlich die Erinnerungen der Zeitzeugen für nachkommende Generationen festhalten, sei für ihn unvorstellbar. Gerade weil wir Deutsche und in meinem Fall Österreicher sind. Er liebt das Land, den Umgang der Menschen mit ihm, der 70 Jahre zuvor überlebt hat, indem er den Verzweifelten, die keinen Ausweg mehr sahen und in die elektrischen Stacheldrahtzäune, die das Lager umgaben, liefen, das bisschen Brot, das sie bei sich versteckt hatten, abnahm. Frühmorgens, bevor es andere taten, wie er betont. Danach war sein "Job", ineinander verkeilte Leichen aus den Gaskammern zu trennen, damit man sie besser verbrennen konnte.
Jiddisch in der Bierhalle
Er küsst nicht nur mich, sondern schafft es über alle Barrikaden und vorbei an der Security, der deutschen Bundeskanzlerin die Hand zu küssen. Zu danken für alles, was Deutschland für die Überlebenden seither getan hat. Seine vier Töchter fangen derweil in der holzvertäfelten Bierhalle zu singen an. Die alten Herren und ihre auch nicht mehr so jungen Kinder singen mit. Jiddisch. Am Nockherberg in München. Die Überlebenden gründen spontan einen Stammtisch "Dachau", wollen wieder hierher zurück, sofern es das Alter und die Gesundheit zulassen. Finden Deutschland 2015 großartig, fühlen sich wohl. "Vor 70 Jahren bin ich im Viehwaggon hierher gebracht worden, jetzt empfängt man mich mit Respekt. Und Liebe." Kaufman ist glücklich, das in seinem Alter erleben zu können.
Unvorstellbare Verbrechen
Auch Hermann Cohn, aufgewachsen in Essen, von den Nazis vertrieben und als Befreier zurückgekehrt, genießt jede Sekunde. Er, der anfangs nie mehr in seinem Leben einen Fuß auf Deutschlands Boden setzen wollte. Auch seine Kinder, gekommen, um ihn zu Ehren, aus den USA und Australien, sind schwer beeindruckt vom Land der Menschen, die vormals solch unvorstellbare Verbrechen begangen hatten.
Erzählen, wieder und wieder
"Es gibt keinen Gott außer der US Army und der IDF (Israel Defense Forces, Anm.)", sagt Kaufman bei der Pressekonferenz anlässlich des Screenings unseres Films "Die Befreier" im Münchner Amerikahaus. Und dann beginnen er und die anderen Männer auf der Bühne zu erzählen, wieder und wieder. Wollen, können nicht mehr aufhören. Alle sollen wissen, was ihnen damals angetan wurde oder mit welchen Schrecken sie konfrontiert waren.
Man steht daneben, denkt nur, was für eine Größe dieser Menschen. Kein Hass, keine Wut. Unvorstellbar. Und man selbst kann nur dankbar sein, in diesem Augenblick dabei zu sein, zuhören zu dürfen, und denkt beschämt darüber nach, was man von solchen Menschen lernen kann. (Andreas Weinek, 28.5.2015)