Mickaël Di Costanzos Kajak gleitet lautlos auf die Rückenflosse des Riffhais zu. "Ganz ruhig bleiben, keine Panik!" Der Raubfisch hat ihn noch nicht bemerkt. Jetzt ist er nur noch wenige Meter entfernt. Als Di Costanzo vorsichtig das Paddel senkt, schnellt der Hai mit einem mächtigen Schlag der Schwanzflosse in die Tiefe und verschwindet hinter der Riffkante. Der Kajak schwankt von der Fluchtwelle und steuert dann seelenruhig auf den Strand zu.

Abenteuer-Guide Di Costanzo schrecken wilde Tiere nicht. Er ist durch Piranhaflüsse im Amazonasgebiet Ecuadors gepaddelt und arbeitete jahrelang als Expeditionsführer im arktischen Spitzbergen. Was ist schon ein Riffhai, wenn man Eisbären und Walrosse im Fahrwasser hatte?

Das neukaledonische Barriereriff ist gut 1.500 Kilometer lang. Wer hier mit dem Kajak unterwegs ist, sieht auch viel von der Welt unter Wasser, in der sich unter anderem bedrohte Schildkrötenarten tummeln.
Foto: Pierre Laboute

"Als ich das Angebot bekam, in Neukaledonien zu arbeiten, wusste ich: Das passt", sagt der Franzose, der sonst nur ungern viele Worte verliert. Er hat auf der entlegenen Inselgruppe im Südpazifik ein neues Zuhause gefunden. Hier hat er die Welt für sich, kann abertausende Paddelschläge lang einfach nur schweigen und sich hin und wieder eine Zigarette drehen, während der Blick die Steilküste entlangtastet oder sich am Horizont verliert. Würde man von hier aus endlos weiter Richtung Sonnenaufgang streben, man würde nach ein paar Wochen vielleicht auf Vanuatu landen oder die Strömung würde einen Richtung Neuseeland treiben.

Von der Welt vergessen

La Côte Oubliée, die Vergessene Küste, nennen die Neukaledonier den Südosten ihrer Hauptinsel Grande Terre. Von der Welt vergessen scheint indessen der gesamte Archipel. Selbst im Mutterland Frankreich haben viele noch nie von der Inselgruppe zwischen Australien und den Fidschiinseln gehört. Dabei ist die Inselgruppe auch auf einer Weltkarte kaum zu übersehen.

Aus der Luft erscheinen viele Mangrovensümpfe auf der neukaledonischen Hauptinsel Grande Terre wie abstrakte Gemälde.
Foto: M. Dosdane-NCTPS

Allein die Hauptinsel des französischen Überseegebiets ist mehr als 400 Kilometer lang und doppelt so groß wie Korsika. Zu dem auf mehr als 1,3 Millionen Quadratkilometern weitverstreuten Archipel gehören unter anderem auch die Belep-, Chesterfield- und Loyalitätsinseln sowie die touristisch bekanntere, postkartenschöne Île des Pins. Mit etwas mehr als 250.000 Einwohnern leben in Neukaledonien aber gerade einmal so viele Menschen wie in Graz.

Niemand kann es sehen

Am Strand räumt Di Costanzo Kokosnüsse aus dem Weg, um Platz für die Zelte zu schaffen. Zwischen zwei Palmen spannt er unter einer Regenplane seine Hängematte auf. "Nach einem langen Tag auf dem Meer die beste Art zu schlafen", sagt er. Aus seinem Kayak kramt er Kaffeepulver, Konservendosen und Obst. Unter den Kokospalmen findet sich genügend Totholz, um ein Lagerfeuer zu entfachen. Niemand außer ihm und seinem Begleiter kann es sehen. Wer das Alleinsein in menschenleeren Landschaften mag, wird Neukaledonien lieben.

Vier Tage lang sind wir mit dem Kajak entlang der wilden Südostküste unterwegs, paddeln in nie gezähmte Gebirgsflüsse und zu winzigen Koralleninseln, die auf unserer Karte keinen Namen haben, vorbei an Mangrovensümpfen, die faszinierende Farbkleckse in die Landschaft zaubern. Wir kämpfen gegen Regenfronten und die unbarmherzige Mittagssonne, gegen Wellen und Strömungen, begegnen niemandem außer der einen oder anderen Meeresschildkröte, die erschrocken den Kopf aus dem Wasser hebt. Selbst den Seeschlangen, die an der ruhigen Westküste bei Nacht über die Strände kriechen, scheint es hier zu einsam zu sein.

Mit dem immer stärker werdenden Seeverkehr wächst auch die Bedrohung der entlegensten Gegenden der Erde.
Foto: Martial Dosdane-NCTPS

"Im Pazifik gibt es kaum andere so wenig erschlossene Inseln", sagt Di Costanzo, "aber auch hier hat der Mensch bereits überall Spuren hinterlassen." Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden etwa für den Nickelabbau auf Grande Terre ganze Bergkämme abgetragen. Die Auswirkungen auf das einzigartige Ökosystem sind mancherorts katastrophal. Die roten Steinbrüche klaffen wie ausgetrocknete Wunden zwischen den Urwäldern. Abfallstoffe werden ins Meer gespült und zerstören die Korallenriffe um die Flussmündungen. Immer mehr Frachtschiffe durchqueren die Gewässer um Neukaledonien. Hochseefischerboote haben es auf die reichen Thunfischvorkommen abgesehen. Mit dem immer stärker werdenden Seeverkehr wächst auch die Bedrohung der entlegensten Gegenden der Erde.

Das zweitgrößte Dopplebarriereriff

Im April 2014 hat die Regierung Neukaledoniens allerdings den größten Teil seines Hoheitsgebiets unter Schutz gestellt. Mit einer Fläche, dreimal so groß wie Deutschland, ist der Parc Naturel de Mer de Corail das größte neugeschaffene Meeresschutzgebiet der Erde. Es soll den Lebensraum unzähliger Tierarten bewahren, darunter 25 Meeressäuger, 48 Hai- und 19 Vogelarten, die auf unbewohnten Atollen brüten. Nach dem australischen Great Barrier Reef hat Neukaledonien das weltweit zweitgrößte Doppelbarriereriff.

Mit dem neuen Parkstatus wurden die Grundlagen für schärfere Regulierungen beim Rohstoffabbau, Seeverkehr und für die Fischerei gelegt. "Die Einrichtung des Parks ist nur ein erster Schritt, um das riesige Gebiet effektiv zu überwachen", sagt Lionel Gardes, der von Neukaledoniens Hauptstadt Nouméa aus den neuen Park verwaltet. "Wir möchten in Zukunft noch strengere Schutzzonen einrichten, um die Artenvielfalt zu erhalten. Nur manche Gebiete sollen für ökotouristische Angebote geöffnet werden."

Neukaledonien taugt mit seinen rauen Berghängen, schroffen Küsten und verstreuten Rinderfarmen auf den ersten Blick kaum als Südseeklischee.
Foto: Winfried Schumacher

In Neukaledonien können Taucher 146 verschiedene Typen von Korallenriffen erkunden, die größte Vielfalt weltweit. Die Unesco hat die neukaledonischen Lagunen bereits 2008 als einzigartiges Welterbe ausgezeichnet. Anders als vielerorts am Great Barrier Reef hat man als Schnorchler oder Taucher selbst die Korallengärten direkt vor Nouméa meist für sich allein.

Zu wenig Südsee-Klischee

"Wir werden hier nie einen Massentourismus erleben", sagt Gardes. Für Europäer ist die Inselgruppe zu weit weg, Australier und Neuseeländer fürchten sich vor dem Französischen, und Asiaten reisen lieber nach Bora Bora, wo die Überwasserpavillons der Honeymoon-Luxushotels inzwischen die Bilderbuchlagune umzingeln, als müssten sie einen Schutzwall vor einfallenden Backpackern bilden. In Neukaledonien gibt es bisher nur um die Hauptstadt Nouméa und auf der Île des Pins größere Hotelanlagen. Gegen den Willen vieler Einheimischer wurde gerade auch an der Westküste ein Sheraton eröffnet.

Neukaledonien taugt mit seinen rauen Berghängen, schroffen Küsten und verstreuten Rinderfarmen auf den ersten Blick kaum als Südseeklischee. Es verwundert wenig, dass James Cook die Insel New Caledonia nannte, als er sie 1774 entdeckte, Neuschottland also. Unter den einheimischen Insulanern wird sie bis heute häufig Kanaky genannt.

Wo die Kanaken wohnen

Der Nordosten von Grande Terre ist bis heute Stammesgebiet. Die einfachen Hütten der Insulaner sind in der dichten Vegetation und in engen Tälern versteckt. Kaum lässt sich erahnen, dass diese Region seit Jahrtausenden von Menschen besiedelt ist. "Die Kanaken haben seit Generationen gelernt, die Natur der Insel als ihre Lebensgrundlage zu bewahren", sagt Félix Tjibaou, Clan-Chef aus dem Dorf Tiendanite. Als Kanaken bezeichnen sich die melanesischen Ureinwohner selbst. Erst über Umwege wurde die Bezeichnung zum Schimpfwort im Deutschen.

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Am Strand von Ouvéa ist Neukaledonien dann doch ganz Südseeidyll: strahlend türkises Meer, blendend weißer Sand und in lauer Meeresbrise wehende Kokospalmen.

"Heute bedroht der Nickelabbau unsere Flüsse und das Meer", sagt Tjibaou. "Es kann nicht sein, dass nur internationale Konzerne profitieren und die Bevölkerung die Folgen tragen muss." Der Cousin des Clan-Chefs, Jean-Marie Tjibaou, wurde 1989 von einem kanakischen Unabhängigkeitsextremisten ermordet, für den Tjibaou nicht radikal genug war. Jean-Marie Tjibaou gilt heute als Nelson Mandela Neukaledoniens. Der Freiheitskämpfer setzte sich für die Rechte der Kanaken und eine gemäßigte Unabhängigkeitsbewegung ein. "Es hat keinen Sinn, wenn Kanaken, Franzosen und Polynesier gegeneinander kämpfen. Wir müssen gemeinsam für unsere Insel eintreten", sagt Félix Tjibaou.

Doch Idyll

Am Strand von Ouvéa ist Neukaledonien dann doch ganz Südseeidyll: strahlend türkises Meer, blendend weißer Sand und in lauer Meeresbrise wehende Kokospalmen. Wäre Captain Cook zuerst auf den Loyalitätsinseln gestrandet, hieße Neukaledonien heute vielleicht Neutahiti.

Sivitongo Georgi zieht sein kleines Motorboot mit aller Kraft auf den Strand. Der Fischer mit der Statur eines Sumo-Ringers trägt ein T-Shirt mit der Unabhängigkeitsflagge Neukaledoniens, die überall auf den Loyalitätsinseln flattert. Wenn Touristen sich auf eine der kleinen vorgelagerten Koralleneilande schippern lassen, legt man auch heute noch Wert darauf, dass sie nach alter melanesischer Sitte der Familie des Inselbesitzers ein Stück Manou-Stoff überreichen. Früher wurden die Stoffe aus Baumrinde hergestellt oder auch "Kanakengeld" überreicht, traditionell kunstvoll bearbeitete Flughundknochen. Heute sind längst in China produzierte grell bedruckte Polyesterstoffe in Mode.

Orte, die tabu sind

Südliche und Nördliche Plejaden nennt man die unbewohnten Inselchen, die sich wie ein Sternenband an den Enden Ouvéas im Ozean verlieren. Für die einheimischen Fischer liegen hier die besten Fanggründe. "Die Inseln gehören seit vielen Generationen den Bewohnern von Ouvéa", sagt Georgi, "früher bestatteten sie hier ihre Toten. Man kann immer noch Grotten mit Schädeln und Knochen finden, aber man sollte diese Höhlen nicht betreten. Die Orte sind tabu."

Immer wieder wollten Investoren ein Hotel oder wenigstens eine Pension entlang der puderzuckerfeinen Sandstrände der Plejaden planen. Doch die Fischer von Ouvéa ließen sich auf keine Verhandlungen ein. "Die Inseln sollen so bleiben, wie sie sind", sagt Georgi, "Was bringt uns ein Hotel und viele Touristen, wenn am Ende das Meer verschmutzt ist und es keine Fische mehr gibt? Auf Ouvéa wird es so weit nicht kommen." (Winfried Schumacher, Rondo, 28.5.2015)