Stefan Zweig schildert in Die Welt von Gestern Reisen vor dem Ersten Weltkrieg: Grenzen ohne Kontrolle, innerhalb Europas – nur Russland verlangte Visa. Wie schön dachte ich, als ich das vor vierzig Jahren las. Heute fehlen sie mir, die Grenzübergänge, sie fehlen mir sehr.

Trotz genetisch bedingter Beamtenphobie: der gewisse Nervenkitzel, wenn man einem Zollschranken nahekam, als Jugendlicher zuweilen mit einem kleinen Haschischklumpen im Gepäck, als Erwachsener vollkommen legal reisend und dennoch immer ein wenig furchtsam. Innerhalb der Schengenländer bleibt mir nichts von diesen masochistischen Freuden. Nur auf Reisen nach Asien, Amerika, Großbritannien existiert sie noch, die milde Hochspannung, zumindest spurenweise.

Eine Erinnerung taucht auf: in der kalifornischen Studienzeit eine Reise nach San Diego, zu Herbert Marcuse. Ich plante ein großes Interview für die TV-Station der UCLA, eine frühe Videokamera mit koffergroßem Aufnahmegerät im Fonds des Buick. Der Kommilitone Chris als Kameramann, zugleich Tonmeister. Wir kamen drei Stunden zu früh, fuhren noch auf Stippvisite über die nahege legene Grenze nach Tijuana. Auf dem Rückweg, am Grenzübergang, brach Chris in Schweiß aus; er habe eine katastrophale Grenzphobie, die sich am Hinweg noch unterdrücken ließ. Er zitterte am ganzen Leib. Seine Brillengläser liefen an. Wir wurden durchgewinkt, problemlos. Das Interview mit Marcuse verlief bestens, es war wirklich hochinteressant. Chris zitterte noch immer – und blieb auch auf dem Heimweg in Schweiß gebadet. Beim Abspielen des Gesprächs, zurück in Los Angeles, stellte sich heraus: Der junge Mann hatte vergessen, das Aufnahmegerät einzuschalten. Von dem Zweistundengespräch, es wäre heute ein bedeutendes historisches Dokument, wurde keine Sekunde aufgezeichnet.

Womöglich wird noch in unserer Lebenszeit die Grenze zwischen Mexiko und den USA verschwinden. Chris wird sich dar über mit Sicherheit ungemein freuen. Ich nicht ... (Peter Stephan Jungk, Album, 22.5.2015)