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Heitere Postboten auf Drahteseln: Davon kann man sich in Peter Handkes "Die Stunde da wir..." in Zeitlupe ein Bild machen.


Foto: APA / Hans Klaus Techt

Wien - Ein Kellner flennt. Ein Jäger will seinen geangelten Fisch erschießen. Ein Rikschafahrer bietet seine entblößten Pobacken zwei soeben zugestiegenen Kundinnen feil: Peter Handkes 1992 von Claus Peymann uraufgeführtes wortloses Stück Die Stunde da wir nichts voneinander wussten ist ein Menschheitspanoptikum, in das sich "an einem freien Platz im hellen Licht" sogar mythologische und biblische Gestalten mischen.

Das estnische Regie- und Ausstatterduo Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper hat an dieser buntscheckigen Flaniermeile Gefallen gefunden und das Stück - mit Erlaubnis des Autors - nun ausgebaut und aktualisiert. Beim Festwochen-Gastspiel des Thalia-Theaters Hamburg war im Theater an der Wien schließlich eine recht zähe Collage von Kürzestszenen zu sehen, die schräg an Handkes Text vorbeizielt.

Von Rätselhaftigkeit und Unmöglichkeit sind die Begegnungen auf Peter Handkes Passantenkreuzung geprägt, davon geht Sprödigkeit aus, unerklärliche Momente, nicht deutbare Blicke. Diese Sprödigkeit glättet die Regie aber mit mäßig witzigem Slapstick. Es ist, als würden die mehreren Dutzend Schauspieler den Kostümfundus plündern, um sich dann in eine endlose Kette von Auftritten zu verfügen.

Dabei wird es immer dann interessant, wenn dieser hektische Rhythmus (haben es denn heutzutage alle Leute nur mehr eilig?) von längeren Szenen unterbrochen wird; etwa das sich unvermittelt arrangierende Casting der Leider-Nichtskönner und Leider-Nichtshaber für einen desinteressiert im Regiestuhl kauernden Regisseur. Ein unheimlich perfekter Sambatänzer in oranger Karnevalspracht befreit alle Beteiligten dann aus dieser Castingtristesse.

Das Augenmerk richtet diese vor wenigen Wochen in Hamburg erstaufgeführte Theaterarbeit - der Standard berichtete - auf das Handwerk, mit dem die Allerweltspassanten in der Begegnungszone zusammengeführt werden: Akrobatik, Sound (alle Wetterlagen), Musik (von Lars Wittershagen).

Wir alle sind Europa

Zur Integration des Publikums wurden Undercover-Sänger im Parkett verteilt, die in den schönsten Countertenorstimmen die "Regieanweisungen" gestaffelt zu singen beginnen. Am Ende werden es so viele Stimmen sein, dass man meint, alle singen, nur man selbst nicht: Wir alle sind Teil dieser auf der Bühne stattfindenden (Nicht-)Begegnungen. Wir alle sind Europa. Wir alle gehören zu dieser chaotischen, alle drei großen Weltreligionen (soweit ersichtlich) beheimatenden Bevölkerung: Fußballmannschaften, Flugzeugbesatzungen, japanische Touristengruppen, Feuerwehrleute, Heiratende, Ausrastende, Glitzernde afrikanische Stammeskönige, Zusammengebrochene und Weggekehrte. Die biblische Erzählung von Isaaks Opferung durch Abraham (in historischen Kostümen) inklusive - dies wohl als Sinnbild für die metageschichtliche, das heißt über die konkreten begreifbaren Koordinaten hinausreichende Dimension dieses Tummelplatzes.

Die Stunde da wir nichts voneinander wussten ist gewiss ein festivaltaugliches Produkt, das aus dem klassischen Sprechtheater-Repertoireprogramm heraussticht. Es wird im steten Strom der Bewegungen nie ganz fad und tut auch niemandem weh. Um den Preis dieser geschmeidig unterhaltsamen Menschenparade zerstäubt aber Handkes Poesie, das darin enthaltene Trügerische, Fragwürdige, Unerklärliche, Widersprüchliche und die inbegriffenen Leerstellen. (Margarete Affenzeller, 22.5.2015)