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Die gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen soll in Vorarlberg flächendeckend eingeführt werden.

Foto: apa

Bregenz – Vor ein paar Monaten stritten die Vorarlberger Regierungspartner noch, ob es einen großen oder kleinen Schulversuch geben soll. Nun überrascht die Landesregierung mit einem wesentlich radikaleren Schritt: Die gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen soll flächendeckend eingeführt werden. Und zwar "mittelfristig", wie Schullandesrätin Bernadette Mennel (VP) am Freitag bei der Präsentation des Forschungsberichts zur gemeinsamen Schule ankündigte. Konkret sei mit acht bis zehn Jahren bis zur Umsetzung zu rechnen. Das Ziel: Chancengleichheit und bessere Leistungen.

Applaus von allen Seiten

Diese Absichtserklärung ist für die Grünen, die die Schulreform nach der Landtagswahl 2014 zur Bedingung für eine Koalition gemacht hatten, "ein Paukenschlag". Bildungssprecher Daniel Zadra sagte am Freitag nach der Vorstellung der Expertenempfehlung: "Unsere jahrelange Forderung nach einer umfassenden Bildungsreform wird auf Punkt und Beistrich bestätigt."

Die Grünen sind nicht allein mit ihrem Applaus. Industriellenvereinigung, Wirtschaftskammer, SPÖ und FPÖ reagierten auf die Ergebnisse der Studie mit voller Zustimmung. Die Neos sind noch etwas skeptisch. Einzig die Initiative Pro Gymnasium, der auch die frühere Unterrichtsministerin Elisabeth Gehrer (VP) angehört, lehnt die Reform ab. Die Unterstufe des Gymnasiums müsse erhalten bleiben.

Zwei Jahre Forschung

Basis des Vorarlberger Vorstoßes ist ein Forschungsprojekt, das die Landesregierung 2013 in Auftrag gegeben hat. Bestehende Modelle der Sekundarstufe 1 (fünfte bis achte Schulstufe) wurden von einer Expertengruppe der Universität Innsbruck, der Pädagogischen Hochschulen Vorarlberg und St. Gallen (Schweiz) sowie der Landesverwaltung analysiert, ergebnisoffen wurden Möglichkeiten der Weiterentwicklung erarbeitet (hier zur Kurzfassung).

Das Ergebnis der wissenschaftlichen Arbeit ist eindeutig: Die frühe Bildungswegentscheidung mit neun oder zehn Jahren mindert die Chancen der Kinder auf eine Schullaufbahn, die ihren Fähigkeiten und Interessen entspricht. Die Verschiebung der Entscheidung ziele darauf ab, den Einfluss des sozioökonomischen Hintergrunds des Elternhauses zu verringern, ergab die Studie.

Die Einstufung, ob ein Volksschulkind reif fürs Gymnasium ist oder nicht, "ist nicht mehr zeitgemäß", sagt Bildungsexperte Johann Engleitner. Wie die Studie zeigt, seien Volksschulnoten nicht aussagekräftig. Kinder, die als nicht AHS-reif eingestuft würden, erbrachten bei Orientierungsarbeiten zu Beginn der fünften Schulstufe in Mathematik annähernd die gleichen Ergebnisse wie schwächere Kinder in der ersten Klasse Gymnasium.

Eingehen auf das einzelne Kind

Die Studie zeige im gegenwärtigen Schulsystem Schwächen bei Exzellenz und Bildungsgerechtigkeit auf, sagt Michael Schratz von der Universität Innsbruck. Die künftige gemeinsame Schule müsse personalisiertes Lernen, das Eingehen auf das Kind in seinen individuellen Bedürfnissen, zum pädagogischen Schwerpunkt machen. Dazu bedürfe es aber einer Umorientierung bei den Lehrenden hin zur Teamarbeit. "Noch sind Lehrer eher Einzelkünstler." Vorarlberg habe nun die einmalige Chance, zum Vorbild für ganz Österreich zu werden.

Veränderung braucht Zeit

Der Schweizer Bildungsexperte Erwin Beck appelliert, die Bildungsreserven der Kinder zu nutzen: "Leider werden noch nicht alle Talente unserer Kinder gefördert." Freilich gehe es nun ans Eingemachte: "Ein Schulsystem zu ändern braucht Zeit."

Begonnen wird die neue bildungspolitische Ära mit einer Geschäftsstelle im Bildungsressort der Landesregierung, die den Veränderungsprozess einleiten und begleiten soll. Ein Gremium, das Maßnahmen priorisieren soll, wird eingerichtet. Erste Vorarbeiten sind bereits auf Schiene: die gemeinsame Ausbildung von Lehrenden der Sekundarstufe I.

Bund ist gefordert

Für die Schulreform muss der Bund gesetzliche Rahmenbedingungen schaffen: In der Bundesverfassung müsste die Forderung der weiteren angemessenen Differenzierung bei den Sekundarschulen aufgehoben werden, in Schulunterrichts- und Schulorganisationsgesetz müssten Bestimmungen über Aufnahmeverfahren aufgehoben werden. Mennel sieht Vorarlberg nicht alleine in seinen Reformgedanken: "Das Burgenland hat Initiativen gesetzt, die Tiroler machen sich auf den Weg. Ich hoffe, dass auch der Bund mitzieht." (Jutta Berger, 22.5.2015)