Des Heulens und Zähneknirschens ist kein Ende nach dem Fall der irakischen Provinzhauptstadt Ramadi an den "Islamischen Staat" (IS) – und natürlich der Schuldzuweisungen, die je nach Standpunkt sehr unterschiedlich ausfallen. Die einen erklären die arabischen Sunniten für unfähig oder unwillig, den IS zu bekämpfen. Aber viele Kritiker der irakischen Regierung in und außerhalb des Irak sind davon überzeugt, dass Ramadi und seine kampfbereiten Einwohner von Bagdad ganz absichtlich kurzgehalten wurden, was Waffen und andere Ausrüstung betrifft, die zum Zurückschlagen der – numerisch nicht starken – IS-Einheiten nötig gewesen wären.

Wobei es da wieder zwei Erklärungsstränge gibt: Ramadi sollte fallen, um die schiitischen Milizen in die Sunnitenstadt schicken und dort aufräumen zu können. Harmloser, aber in der Auswirkung nicht weniger fatal ist die Annahme, dass die Regierung sich vor den Sunniten in Ramadi fürchtet und sie nicht hochrüsten wollte.

Dazu passt, dass die Flüchtlingsströme nur sehr zögerlich nach Bagdad durchgelassen werden. Dass sich IS-Mitglieder unter die Fliehenden zu mischen versuchen, ist keine absurde Annahme. Auch der Fall von Ramadi ist – wie jener von Mossul im Juni 2014 – nur dadurch zu klären, dass der IS bereits in der Stadt präsent gewesen war, bevor die Milizen offiziell einzogen. Diese Fähigkeit, sich unter die Bevölkerung zu mischen, macht es auch so schwer, ihn zu bekämpfen, vor allem aus der Luft, wie es die USA und ihre Alliierten versuchen.

Die Regierung von Haidar al-Abadi machte zu Wochenbeginn jedenfalls nicht den Eindruck, irgendetwas im Griff zu haben. Ein Sprecher verstieg sich zwar zur Behauptung, der Rückzug der irakischen Armee aus Ramadi sei ein strategischer gewesen: Abgesehen von ihrem Zynismus angesichts der Menschen, die der IS in Ramadi seit der Einnahme ermordet hat, reicht ein Verweis auf das von der Armee auf der Flucht zurückgelassene und dem IS in die Hände gefallene Kriegsgerät, um diese Aussage zu falsifizieren.

Dass jene irakischen Sunniten verzweifeln, die zwar der Regierung in Bagdad – nach den Jahren mit Premier Nuri al-Maliki kein Wunder – skeptisch gegenüberstehen, aber keinerlei Sympathien für die radikalen Jihadisten haben, versteht man. Es sind ihre Gebiete, ist ihre Welt, die verschwindet. Zwar mag der Anspruch des IS sein, den ganzen Nahen Osten (und die Welt) zu beherrschen; de facto gelingt es ihm, in Sunnitengebieten Terrain zu gewinnen und zu halten. Dort wird nichts mehr so sein, wie es einmal war.

Auch im Weißen Haus ist Feuer am Dach, vor allem ist die Frage zu stellen, wie es zur falschen Lagebeurteilung auch durch die US-Berater der irakischen Armee kommen konnte. Ihre Aufmerksamkeit wurde vom IS offenbar ebenso erfolgreich zerstreut wie jene der irakischen Führung. Nun wird vor allem die Gefährdungslage Bagdads neu bewertet werden müssen.

Einen dramatischen US-Strategiewechsel dürfte es dennoch nicht geben. Den Republikanern nahestehende Thinktanks fordern ein verstärktes militärisches US-Engagement, wenn nötig auch mit Bodentruppen: Vor allem müsse man an der Regierung in Bagdad vorbei Kurden und Sunniten bewaffnen. Das käme für Washington jedoch einer Abkehr von dem Bekenntnis zur Einheit des Irak gleich – und der Bewaffnung künftiger Bürgerkriegsparteien. (Gudrun Harrer, 20.5.2015)