Karl Sigmund, "Sie nannten sich Der Wiener Kreis. Exaktes Denken am Rande des Untergangs". € 20,55 / 361 Seiten. Springer Spektrum, Wiesbaden 2015

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Man kann wahrlich nicht behaupten, dass es wenig Literatur über den Wiener Kreis gäbe: Von der dünnen rororo-Bildmonografie über die dicken, gerade erst wieder aufgelegten "Studien zum Wiener Kreis" des Wissenschaftshistorikers Friedrich Stadler bis hin zu einer Flut an Sammelbänden aus dem 1991 von Stadler gegründeten Institut Wiener Kreis ist eine ganze Reihe an Büchern über Schlick, Neurath und Co. erhältlich.

Die mit Abstand beste Einführung in die Gedankenwelt und das bunte Treiben dieses exzentrischen Denkerzirkels liegt aber erst seit einigen Wochen vor: Karl Sigmund, seit kurzem Emeritus an der Uni Wien, hat seinen Unruhestand nicht nur dazu genützt, um eine großartige Ausstellung über den Wiener Kreis auf die Beine zu stellen. Davor und daneben hat er - "als Belohnung", wie er selbst sagt - auch noch ein famoses Buch über die so unterschiedlichen Protagonisten des Wiener Kreises und seine Vor- und Mitläufer verfasst.

Der angesehene Mathematiker und Spieltheoretiker beginnt seine unterhaltsame Tour d'horizon mit den beiden streitbaren Zwillingen, den Physikern Ludwig Boltzmann und Ernst Mach, die sich rund um 1900 in der Frage der Atome in die Haare kriegten. Am Ende des Buchs steht ein anderer legendärer Denkerstreit: der nämlich zwischen Karl Popper und Ludwig Wittgenstein, zwei höchst einflussreichen "Randfiguren" des Wiener Denkerzirkels.

Dazwischen macht Sigmund in "Sie nannten sich Der Wiener Kreis" eindrucksvoll klar, warum Wien "in der Philosophie eine ähnliche richtungsweisende Rolle gespielt hat, wie einst in der Musik" - und warum in diesem goldenen Zeitalter der österreichischen Philosophie der Wiener Kreis eine zentrale Stellung einnahm. Nicht ausgespart bleibt dabei der politische Kontext der 1920er- und 1930er-Jahre, auf den sich Sigmunds treffende Formulierung vom "Tanz auf dem Deck der Titanic" bezieht - sowie der Untertitel des Buchs: "Exaktes Denken am Rande des Untergangs".

Beim allem Ernst des Themas erzählt Sigmund die Geschichte des Wiener Kreises mit einer gehörigen Portion Witz, völlig fußnotenfrei und doch höchst quellenreich. Zudem ist der wohlfeile Band mit famosem Bildmaterial ausgestattet und so fast schon ein Katalog zu der von ihm ko-kuratierten Schau an der Universität Wien.

Anlässlich der Ausstellungseröffnung am Dienstag meinte Sigmund, die Geschichte des Wiener Kreises trüge "so viel Dramatik in sich, dass es Tolstoi oder Shakespeare gebraucht hätte, um das entsprechend darzustellen". Man muss ihm widersprechen: Viel besser als er hätten die beiden es auch nicht hingekriegt. (Klaus Taschwer, 20.5.2015)