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Experten sind sich einig: Die Couch stehe zwar heute noch im Zentrum einer psychotherapeutischen Behandlung, die Disziplin selbst habe sich aber aus dem Schatten Freuds längst weiter entwickelt.

Foto: APA/dpa/Roland Schlager

Wien - Sigmund Freud gilt als Begründer der Psychoanalyse und noch immer als wichtiger Denker und Wissenschafter: Obwohl einige seiner Ansätze nicht mehr zeitgemäß sein mögen. "Freud war ein Pionier, er hat Türen geöffnet, er hat aber keine heilige Schrift entwickelt. Die Psychoanalyse hat sich erheblich weiterentwickelt", sagt der Soziologe Johann Schülein.

"Psychoanalyse ist mehr als nur eine Form der Psychotherapie. Darüber hinaus ist sie eine Theorie vom Menschen, seiner Entwicklung. Vor dem Hintergrund psychischer Erkrankungen ist es eine Theorie vom Zusammenleben, aber auch von Beziehungen von Organisationen und Nationen und nicht zuletzt ist sie auch eine Kultur- und Sozialtheorie", meint Stephan Doering, Vorstand der Universitätsklinik für Psychoanalyse und Psychotherapie am AKH Wien im Rahmen der vom Wissenschaftsministerium veranstalteten Diskussionsveranstaltung "Science Talk".

Nach wie vor sei die Psychoanalyse die Grundlagenwissenschaft für die Psychotherapie generell, sagt Christine Diercks, Vorsitzende der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Allerdings werde der Begriff oft missverständlich gebraucht und Freud und die Couch würden unzulänglicherweise als Synonym für die Psychoanalyse gesehen.

Einfluss auf viele Forschungsgebiete

Die Couch stehe zwar heute noch im Zentrum einer psychotherapeutischen Behandlung, die Disziplin selbst habe sich aus dem Schatten Freuds aber längst weiter entwickelt. Etwa habe erst die österreichisch-britische Psychoanalytikerin Melanie Klein den Zugang zu den ersten frühkindlichen Entwicklungsschritten der Psyche eröffnet, die Freud nur am Rande behandelte, erklärt Johann Schülein, Professor für Allgemeine Soziologie und Wirtschaftssoziologie an der WU Wien.

Bis heute beeinflusse die Psychoanalyse viele Disziplinen, auch wenn sie dieses Etikett nicht mehr offen vor sich hertragen. Experten aus Marketing, Ökonomie oder Soziologie würden ständig latent auf psychoanalytische Terminologie Bezug nehmen, wenn auch "eher intuitiv und nicht systematisch", so Schülein.

In der modernen Soziologie erzeuge die Psychoanalyse bisweilen heftige Abwehrreaktionen, dennoch seien viele klassische Texte von Erich Fromm bis Theodor Adorno ohne Freuds Ideen gar nicht denkbar. "Aus meiner Sicht kann man kaum einen sozialen Konflikt ohne Psychoanalyse verstehen", meint Schülein.

Freud als Vordenker der Neurowissenschaft

Psychoanalyse ist nach wie vor das "schlüssigste Modell des menschlichen Geistes", zitierte Doering den aus Wien stammenden US-Neurobiologen und Nobelpreisträger Eric Kandel. Darüber hinaus sei Freud in vielen Dingen seiner Zeit voraus gewesen und ein "Ideenlieferant, der heute noch stimulierend auf die Neurowissenschaft wirkt".

So hat Freud über das lernabhängige Ausbilden von Verknüpfungen zwischen den Nervenzellen im Gehirn spekuliert und damit das Vorhandensein von Synapsen antizipiert. Erst moderne bildgebende Verfahren hätten einige dieser Vermutungen nachvollziehen können. "Das Unbewusste ist neurowissenschaftlich schon belegt worden", so Doering.

Warum die Behandlungsmethode oft eine Abwehrhaltung hervorruft, sei darauf zurückzuführen, dass "die Psychoanalyse an dem rührt, was uns Angst macht, was verdrängt wird", sagte Diercks. Oder wie es Johann Schülein formuliert: "Sie geht dahin, wo es wehtut." (APA, 19.5.2015)