"Heimat ist ein so sonderbarer Begriff", sagt Erich Lessing, der 1947 in die Trümmer Wiens zurückkehrte.

Foto: Standard/Matthias Cremer

15. Mai 1955, ein Foto, das berühmt wurde: Leopold Figl mit den alliierten Außenministern auf dem Balkon des Belvedere.

Foto: Erich Lessing

STANDARD: Am 15. Mai 1955 standen Sie vor dem Schloss Belvedere und haben jenes berühmte Foto gemacht, als Außenminister Leopold Figl den Staatsvertrag präsentierte. In welchem Auftrag waren Sie dort?

Lessing: In meinem.

STANDARD: Sie waren auf eigene Initiative dort?

Lessing: Immer. Normalerweise, wenn ich einen Termin habe, sage ich das einigen Zeitungen, die nehmen dann ein Foto. Der Staatsvertrag, das war etwas Besonderes, das war klar, dass ich in Wien sein muss bei diesem Ereignis.

STANDARD: Und das Foto haben Sie dann angeboten?

Lessing: Ja, Magnum, meiner Fotoagentur, das war die normale Verteilung. Aber international gesehen, war das ein kleines Ereignis.

STANDARD: Wie war die Stimmung vor dem Belvedere?

Lessing: Die Leute waren in einer sehr guten, eigentlich festlichen Stimmung. Der ganze Weg vom Bundeskanzleramt über den Alliierten Rat bis zum Belvedere war vollgestopft. Und die Leute waren freiwillig dort.

STANDARD: Auf dem Heldenplatz, als Hitler gesprochen hat, waren sie auch freiwillig dort.

Lessing: Ja, absolut. Aber der Heldenplatz war nicht so voll wie das Belvedere. Es war eine freudige Stimmung, eine gelöste Stimmung. Die Leute haben gefeiert.

STANDARD: Am Tag vor der Unterzeichnung des Staatsvertrags ist es Außenminister Figl noch gelungen, die Nennung der Mitschuld Österreichs am Zweiten Weltkrieg aus der Präambel des Vertrags herauszuverhandeln. Ist das typisch für den Umgang der Österreicher mit ihrer Vergangenheit?

Lessing: Wir können 1955 nicht mit heute vergleichen. Es schaut die Vergangenheit und auch die Gegenwart ganz anders aus, das sind andere Augengläser. Figl selbst ist lange im KZ gesessen. Die Geschichte mit dem Opfer und der Schuld ist eine sehr komplizierte Geschichte. Das Eingeständnis der Mitschuld, wie die Russen das wollten, das hatte auch andere Gründe, keine moralischen Gründe. Die Russen haben damals sehr praktisch gedacht. Sie wollten ihren Einfluss wahren. Meiner Meinung nach hing alles am Warschauer Pakt und am Sicherheitsgefüge der Sowjets. Wenn am Tag zuvor, am 14. Mai, der Warschauer Pakt nicht gelungen wäre, dann hätten wir auch keinen Staatsvertrag. Ich war am 15. Mai auch im Bundeskanzleramt und habe mit Figl und Raab gewartet, ob Molotow kommt oder nicht. Er war zuvor in Warschau bei der Unterzeichnung des Paktes. Das Aufatmen war groß, als die Limousinen endlich am Ballhausplatz einfuhren. Julius Raab sagte nur: "Da kommt er."

STANDARD: Sie selbst mussten 1939 vor den Nazis aus Österreich flüchten und kehrten 1947 zurück. Haben Sie Österreich damals als Ihre Heimat wahrgenommen?

Lessing: Heimat ist ein so sonderbarer Begriff. Österreich war ein ehemaliges Zuhause, das wieder ein Zuhause wurde. Damals habe ich eigentlich versucht, nach Paris zu kommen, um auf die Filmakademie zu gehen. Die Überreste meiner Familie - ich wusste, dass sie alle tot waren. Auschwitz war zeitmäßig nicht sehr weit, und Theresienstadt auch nicht. Heimat, nein. Zuhause? Nein, das war 1945 niemandes Zuhause. Die Bevölkerung hat ein neues Zuhause gesucht, inklusive mir.

STANDARD: Was haben Sie dann hier gefunden?

Lessing: Trümmer. Und ein traumatisiertes Volk, eine völlig traumatisierte Bevölkerung, völlig erodiert. Nach Jahren des Krieges, der Zerstörung, des Drucks, der Angst, nein, das war keine freundliche Stimmung. Die freundliche Stimmung hat sich eigentlich nur dort gezeigt, wo die Überreste wieder zusammengefunden haben, wo sich das andere Österreich wieder getroffen hat, das untergetaucht war oder zurückgekommen ist. Es gab jene Aussage von Figl in seiner Weihnachtsansprache, die so oft zitiert wurde: "Glaubt daran." Und die meisten Menschen haben geglaubt. Jetzt ist dieses Land ein reiches Land. Und ein glückliches Land. Das Getöse der Welt dringt selten herein.

STANDARD: Was hat Sie damals veranlasst, in Österreich zu bleiben?

Lessing: Zum einen hab ich kein französisches Visum bekommen. Aber ich habe dieses Wollen, nach Frankreich zu gehen und dort eine Zeitlang zu leben, nicht aufgegeben, das habe ich dann viele Jahre später gemacht. Aber der momentane Grund, hier zu bleiben, das waren Gottfried Einem, Fritz Wotruba, Ernst Häussermann. Da habe ich schnell Anschluss gefunden an Menschen, die ich geschätzt habe, die genauso gedacht haben wie ich. Die waren untergetaucht oder haben irgendwo im Ausland überlebt wie ich. Wir haben uns getroffen am Häussermann-Tisch im Café Grillparzer, später im Café Savoy. Das war ein Teil des kulturellen Österreichs. Ein wichtiger Teil des neuen Österreichs. Die Erste Republik, das war ein Staat, den keiner wollte, die Zweite Republik war ein Staat, den jeder wollte.

STANDARD: Haben Sie den Österreichern gegenüber Verbitterung gefühlt oder Rachegefühle gehabt?

Lessing: Na sicher. Mit Freude ist man nicht durch die Kärntner Straße gegangen. Mit Wut und Trauer, mit dem ganzen Register der Gefühle, mit dem Zweifel, ob man jemals wieder mit diesen Menschen leben kann, ob diese kleine Gruppe im Café Grillparzer sich durchsetzen kann. Österreich bestand nicht aus dem Café Raimund, dem Hans Weigel, dem Café Grillparzer und dem Häussermann. Aber das war ein Nucleus, dem man sich gern angeschlossen hat. Man hat gehofft, dass ein paar Jahre später die Wunden zu heilen beginnen. Ganz können sie nie heilen. Denn irgendwo trifft man immer die Gegner, die Gegner von damals. Obwohl man bereit war, mit jenen, die nicht die Mörder waren, wieder zusammenzuleben. Aber wir haben sie heute noch unter uns, die Gegner.

STANDARD: Warum hat es so lange gedauert, bis Österreich bereit war, die Schuld und die Mitverantwortung einzugestehen?

Lessing: Na weil es praktisch war. Mitschuld, ja sicher. Die Deutschen haben jahrelang davon gelebt, dass sie Trauer gespielt haben. Aber diese Trauer hat ihnen auch niemand abgekauft.

STANDARD: Viele Ihrer Fotos sind als zeitgeschichtliche Dokumente bekannt geworden. Ob das jetzt die Bilder aus dem Jahr 1955 sind oder ein Jahr später vom ungarischen Volksaufstand in Budapest. Glauben Sie oder glaubten Sie, dass man mit Bildern, etwas bewegen, etwas verändern kann?

Lessing: Wir haben das alle in unserem Metier geglaubt. Dass man etwas bewegen kann. Wir haben in Budapest gelernt, dass man nichts bewegen kann. Die Weltgeschichte geht ganz anders, die lässt sich nicht von Bildern beeindrucken. Es ist egal, was in Budapest passiert, die Welt bewegt sich anders. Ich habe damals den Glauben an die Möglichkeiten, etwas zu bewegen, etwas zu verändern, verloren. Ich habe dann auch aufgehört, Politik zu fotografieren, außer in besonderen Fällen, wie die Algerienreise von Charles de Gaulle. Aber viel bewegt man nicht. Man macht Eindruck im Moment. Aber das Bild hat sich abgenützt. Die eindrucksvollen Bilder, die vielleicht noch etwas gebracht haben, das war in Vietnam. Aber heute, wir sehen tote Kinder, Verletzte, Hungernde, wir haben sie so oft gesehen, dass wir eigentlich darüber hinwegsehen. Und das glückliche Paar, glückliche Menschen, die finden wir auch nicht auf der ersten Seite.

STANDARD: Sie haben historische Momente fotografiert, Sie haben Porträts von wichtigen Persönlichkeiten und von einfachen Menschen gemacht, Sie haben Landschaften fotografiert und waren an Filmsets tätig. Was sind Ihre liebsten, Ihre wichtigsten Fotos?

Lessing: Das kann ich nicht sagen. Alle sind mir lieb, wenn sie scharf und richtig belichtet sind. Meine Tochter hat für die jetzige Ausstellung Bilder ausgegraben, die ich längst vergessen habe. Ich glaube, es gibt kein Bild, das ewig seine Bedeutung behält. Außer vielleicht das nackte Mädchen, das in Vietnam brennend vor einer Napalmbombe wegläuft. Aber wird das in zehn Jahren noch irgendjemandem bewusst sein? Ich habe das Gefühl, dass die Jugend heute ganz andere Sorgen und Freuden hat. Wo ist das Geschichtsbewusstsein? Vielleicht ist das richtig so. Man darf nicht immer an der Vergangenheit lehnen. Die Vergangenheit ist ganz einfach vorbei. Ich bin noch am Ende der Generation, die den Krieg dokumentiert hat. Ich bin überzeugt davon, dass die Jugend von heute daran nicht mehr interessiert ist, die sind davon nicht mehr berührt.

STANDARD: Wir sind jetzt mit einer Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer konfrontiert, die sehr stark auch über Bilder transportiert wird. Glauben Sie nicht, dass das die Menschen, dass das die heutige Jugend berührt und interessiert?

Lessing: Ich glaube nicht. Das geht an ihnen vorbei, das hinterlässt keinen wirklichen Eindruck, denn sonst hätten die europäischen Regierungen auch anders reagiert, und gehandelt. Man sagt: Ja, entsetzlich. Punkt. Und wo gemma heute Nacht noch essen?

STANDARD: Sie haben die Ausstellung erwähnt, die Ihre Tochter Hannah im Jüdischen Museum organisiert hat, "Lessing zeigt Lessing". Wie gefällt sie Ihnen?

Lessing: Ich hab sie vorläufig noch nicht einmal gesehen.

STANDARD: Aber Sie waren doch bei der Eröffnung dort. Haben Sie sich nicht umgeschaut?

Lessing: Nein, da waren so viele Leute, dass man nicht durchgekommen ist. Ich war eingepfercht zwischen den Menschen.

STANDARD: Haben Sie sich wenigstens den Katalog angeschaut?

Lessing: Sehr schön.

STANDARD: Was sagen Sie zur Auswahl der Bilder?

Lessing: Sehr interessant. Ich hätte sicher fast alle Landschaftsbilder auch so ausgesucht, bei den anderen vielleicht ein bisschen anders ... Aber Hannah hat das sehr gut gemacht.

STANDARD: Sie hatte offenbar ein wenig Angst, was Sie zu ihrer Auswahl der Bilder sagen würden.

Lessing: Da hätte Sie eigentlich wissen müssen, dass ich immer sehr stolz bin auf sie. Und endlich einmal eine Ausstellung, mit der ich nichts zu tun habe.

STANDARD: Ihre Tochter Hannah ist Chefin des Nationalfonds der Republik für Opfer des Nationalsozialismus. Sie kümmert sich um materielle Wiedergutmachung und Entschädigungszahlungen. Was sagen Sie zur Arbeit Ihrer Tochter?

Lessing: Ich finde das großartig. Ich finde es toll, dass sie noch lachen kann bei so viel Leid herum, das immer noch auftaucht. Viele Menschen, darunter ich, können nicht vergessen, aber man kann nicht ein ganzes Leben lang leiden. Das hat wenig Sinn. Man kann vielleicht etwas lindern, Hannah tut das, man kann helfen. Aber sicher nicht vergessen. (Michael Völker, 15.5.2015)