STANDARD: Früher verstand man unter Jugend 14- bis 18-Jährige. Heute heißt es, dass sich diese Lebensphase bis 30 erstreckt. Bringt mehr Zeit für die Selbstfindung auch mehr Zufriedenheit?
Böhnisch: Die ursprüngliche Vorstellung ist die des Schutzjugraumes. Die Zwölf- bis 14-Jährigen werden aus der Arbeitsgesellschaft genommen, ausgebildet, wieder integriert und haben die Sicherheit, das, was sie gelernt haben, verwerten zu können. Diese Sicherheit gibt es nicht mehr. Die Jugend ist eine Risikogruppe geworden.
STANDARD: Sie sind Herausgeber von "Jugend ermöglichen". Ist der Titel eine Handlungsanweisung?
Böhnisch: Ja, es geht darum, das Experimentieren zu ermöglichen.
Plakolm: Jugendarbeit versucht die politischen und pädagogischen Bedingungen zu erzeugen, damit Jugendliche zu sich selbst finden und ihre Sozialisation selbst in die Hand nehmen können.
STANDARD: Die Probleme junger Menschen können von Lernschwierigkeiten über Cybermobbing bis zum Thema Radikalisierung reichen. Wo in diesem sehr breiten Spektrum setzt Jugendarbeit an?
Böhnisch: Sie stellt Räume zur Verfügung, die man sich aneignen und in denen man experimentieren kann, und sie inszeniert eine Gleichaltrigenkultur, die die Schule als Zwangskultur nicht herstellen kann.
Plakolm: Die Jugendlichen kommen freiwillig in die Jugendzentren, können anonym bleiben und den Kontakt jederzeit einseitig wieder lösen. Die Chance liegt in diesem Prinzip der Freiwilligkeit.
STANDARD: Wie kann man die erreichen, die nicht freiwillig kommen?
Plakolm: Wir betreiben neben Jugendtreffs auch die mobile Jugendarbeit. Das ist eine Form von Straßensozialarbeit, um mit jenen ins Gespräch zu kommen, die von sich aus keinen Kontakt suchen.
STANDARD: Das scheint nicht immer zu gelingen. Man hört etwa immer wieder von jungen Leuten, die sich Terrororganisationen anschließen.
Plakolm: Die Jugendarbeit hat ihre Grenzen. Wenn sie mitkriegt, dass Jugendliche ins Kriminelle abdriften, kann sie nur beraten.
Böhnisch: Radikalisierung hängt oft mit einem Mangel an Anerkennung zusammen. Der wird durch Auffälligkeit bis hin zur Radikalität kompensiert. Jugendarbeit ist ein Raum, der Möglichkeiten bietet, Anerkennung zu bekommen.
STANDARD: An welche Zielgruppe richtet sich Jugendarbeit in Wien?
Plakolm: Prinzipiell richtet sie sich an alle Jugendlichen in Wien, aber der öffentliche Raum wirkt selektiv. Wer zu Hause gut ausstaffiert ist oder sich bestimmte Konsumgüter leisten kann, kommt eher nicht zu uns. Meist kommen Hauptschüler, Lehrlinge und die, die arbeitslos oder noch gar nicht ins Berufsleben eingestiegen sind. Das variiert aber nach Stadtvierteln. Die Durchmischung kann auch eine ganz andere sein, auch beim Verhältnis Burschen zu Mädchen oder bei den Altersgruppen. Die Schwierigkeit ist, allen einen offenen Raum anzubieten.
STANDARD: Erreicht die Jugendarbeit junge Flüchtlinge?
Plakolm: Wenn die unbegleiteten Flüchtlinge mit 18 Jahren aus der Bundesbetreuung herausfallen, dann hängen sie herum. Wir merken das verstärkt in der Donaustadt und in Favoriten. Allerdings haben wir hier unsere Grenzen. Wir machen etwa schulkompensatorische Maßnahmen, Lernbetreuung am Nachmittag, aber wir können keine institutionelle Anbindung erzeugen. Wir können uns aber darauf einstellen, dass die Gruppe derer, die kommen, immer differenzierter wird. Da sind auch kulturelle Backgrounds dabei, die in den Herkunftsländern verfeindet sind. Es ist die Kunst der Jugendarbeit, einen freien Raum für alle zu schaffen.
STANDARD: Wie steht die Wiener Jugendarbeit international da?
Böhnisch: In Deutschland gibt es einen Maßnahmenhype: Es gibt hier ein Modellprojekt, das drei Jahre dauert, dann dort eines und dort eines. In Wien gibt es eine Infrastruktur, die jederzeit eingesetzt werden kann. Das findet man sonst vielleicht noch in Skandinavien. Es ist ein Modell kommunaler Jugendarbeit, das über das Pädagogische hinausgeht, die Stadtentwicklung mitprägt und auf Gemeinwesen orientiert ist.
Plakolm: Es ist im Verhältnis zu anderen österreichischen oder deutschen Städten einmalig, was Wien für Jugendarbeit ausgibt.
STANDARD: Der heutigen Jugend wird nachgesagt, dass sie langweilig und unpolitisch sei.
Böhnisch: Im Moment wächst unter Jugendlichen eine skeptische Generation heran, eine, die abwartet und schaut, wie sich die Dinge weiterentwickeln. Das ist nicht offensiv, aber durchaus auch eine Haltung. Jugendliche sind ja zu allem Neuen bereit, aber es kommt darauf an, was sie vorfinden. Wenn die Gesellschaft nicht politisch ist, warum sollten sie es sein? (Christa Minkin, 13.5.2015)