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Wie entstehen und erhalten sich real existierende Benachteiligungen und Diskriminierung auf Basis von kollektiven Urteilen? Fragen wie diesen kann sich die analytische Philosophie etwa durch Untersuchungen, was "soziale Strukturen" genau sind, nähern.

Foto: Reuters / Adrees Lativ

Wien - Es waren alles "selbstständig denkende Köpfe", völlig gleichförmige Anschauungen gab es nicht. Aber im Kern waren sich die Teilnehmer des Wiener Kreises einig, schreibt der Wissenschaftstheoretiker Viktor Kraft in seinem Buch Der Wiener Kreis. Der Ursprung des Neopositivismus über die philosophische Gruppe. Auch die Philosophie müsse jeglichen wissenschaftlichen Anforderungen gerecht werden, logische Strenge und nachvollziehbare Begründungen bieten und sich fernab von Dogmen und Spekulationen bewegen. Das war ihre Vision für diePhilosophie des 20. Jahrhunderts.

Philosophie und Sozialismus

Zwar sind Ideen wie die einer formalen Idealsprache, die sprachliche Verwirrungen über wissenschaftliche Erkenntnisse oder auf dem Weg dorthin ausschließen sollte, gescheitert. Nichtsdestotrotz ist heute die analytische Philosophie, die sich aus der Arbeit von George Edward Moore, Bertrand Russell, Ludwig Wittgenstein oder eben des Wiener Kreises heraus entwickelte, die bestimmende Richtung der Philosophie.

Ab Donnerstag widmet sich in Wien der dreitägige Workshop "Analyzing Social Wrongs: Workshop on Social Criticism in Analytic Philosophy" der Verbindung zwischen analytischer Philosophie und gesellschaftskritischer Forschung, der am Institut für Wissenschaft und Kunst stattfindet und gemeinsam mit dem Institut fürPhilosophie der Uni Wien veranstaltet wird. Diese Verknüpfung ist im deutschsprachigen Raum nicht sehr geläufig, obwohl sie alles andere als neu ist: Ein Teil des Wiener Kreises machte als "linker Flügel" seine sozialistische Ambitionen deutlich.

Zentrale Figur dieses Flügels war Otto Neurath, der sich in der Arbeiterbildung und mit der Entwicklung der Bildmethode Isotype (International System of Typographic Picture Education) für eine Demokratisierung des Zugangs zu Wissen einsetzte. "Wir wollten an dieser Idee von einem Wissenschaftsprojekt, das etwas zu emanzipatorischen Zielen beitragen will, festhalten", beschreibt Odin Kroeger (Universität Wien) die Motivation für diesen Workshop, den er mit Hilkje Hänel und Daniel James von der Humboldt-Universität zu Berlin organisiert hat.

Soziale Phänomene fassen

Auf den ersten Blick erschließe sich nicht sofort, was vor allem auf Sprachkritik und Logik ausgerichtete Methoden zur Gesellschaftskritik beitragen können, sagt Kroeger. Der Workshop soll daher Einblicke bieten, wie eine Kombination ausanalytischen Methoden und gesellschaftskritischer Forschung konkret aussehen kann - und renommierte Philosophinnen und Philosophen haben sich dafür angemeldet. Eröffnungsrednerin Sally Haslanger, Professorin am Institut für Linguistik und Philosophie am Massachusetts Institute of Technology, untersucht Begriffe, die gesellschaftskritischen Analysen zugrunde liegen.

"Gesellschaftskritik sieht Probleme in erster Linie in sozialen Strukturen angelegt und nicht im Agieren einzelner Menschen", erklärt Kroeger. Das erfordere aber zu klären, inwiefern solche Strukturen überhaupt etwas verursachen können. Eine Schwierigkeit dabei: gesellschaftliche strukturelle Probleme einerseits als Konstrukte und somit als soziale Phänomene zu fassen und andererseits ihre real existierenden Konsequenzen im Blick zu behalten. Haslanger illustrierte dieses Dilemma in dem Paper "But Mom, Crop-tops are Cute!", das 2007 von "The Philosopher's Annual" unter die zehn besten Philosophie-Papers gewählt wurde.

Darin schreibt sie über ein zwölfjähriges Mädchen, das ihre Eltern anbettelt, ein bauchfreies T-Shirt anziehen zu dürfen. Die Eltern sind dagegen. Das Kind argumentiert damit, dass so ein bauchfreies Top "süß" sei, das wüsste schließlich jeder. Ohne dieses Shirt würde sie an ihrer Schule als Trottel dastehen. Die Eltern wenden ein, dass die Urteile "süß" und "Trottel", wenn sie dieses Oberteil nicht trägt, einzig dem sozialen Kontext geschuldet seien. Diese Urteile seien keine Tatsache, sondern ein soziales Konstrukt.

Eine Feststellung, die der Tochter nichts nützt, denn der soziale Referenzrahmen ist nun mal ihre Schule - und dort existieren diese Positionen über bauchfreie Tops und Mädchen, die keines tragen. Es zeigt sich also, dass ein Einzelner gegen soziale Konstrukte nichts tun kann, weil diese auf geteilten Schemata beruhen. Sally Haslanger wirft somit die Frage auf, wie Kritik an bestimmten Ideologien unter der Bedingung funktionieren kann, dass sie ein soziales Konstrukt und gleichzeitig auch real existierende Tatsachen sind - wie beispielsweise an der Schule der Zwölfjährigen das Urteil "bauchfreie Tops sind süß".

Durch Methoden wie diese könne man sich nach und nach dem annähern, was mit Begriffen wie "sozialer Struktur" überhaupt gemeint sein könnte, sagt Kroeger. Beim Eröffnungsvortrag plädiert Haslanger dafür, Kritik an Ideologien oder Weltanschauungen auf eine Kritik von Begriffen auszuweiten, durch die wir die Welt erfahren.

Analyse moralischer Intuition

Begriffsanalysen wie diese zählen zu den wichtigen Instrumenten der analytischenPhilosophie. Ihrer bedienen sich philosophische Disziplinen wie die analytischefeministische Philosophie oder die Critical Theory of Race. Nathaniel Adam Tobias Coleman (da "Coleman" der Name war, den seine versklavten Vorfahren von ihrem Besitzer erhielten, möchte ihn der Philosoph nur durchgestrichen verwendet wissen, Anm.), der den zweiten Hauptvortrag hält, erforscht den Wandel der moralischen und politischen Vorstellungen über Sklaverei.

Er beschäftigt sich mit der heute verbreiteten Überzeugung, dass "wir" inzwischen die Sklaverei für ungerecht halten, wohingegen dies früher nicht der Fall gewesen sei. Mit der Untersuchung unserer moralischen Intuitionen arbeitet der Philosoph mit einer zentralen Methode der analytischen Philosophie. Und mit einer, wie schon Generationen vor ihm, betont gesellschaftskritischen Stoßrichtung: Dass "wir" erst heute dieser Überzeugung zu sein scheinen, liegt ihm zufolge daran, dass zu diesem "Wir" eine ganz bestimmte Gruppe nicht gehörte, nämlich die von der Sklaverei betroffenen. Angesichts dessen sei Misstrauen gegenüber den moralischen Theorien der Herrschenden und Wohlwollen gegenüber den Positionen der sozial Benachteiligten richtig. Moralische Indifferenz hingegen falsch. (Beate Hausbichler, 13.5.2015)