Am 9. März 1944 begann in St. Georgen unter dem Tarnnamen "Bergkristall" der Bau einer der größten unterirdischen Rüstungsanlagen des Deutschen Reiches.

BIG/Helga Loidold

Linz – Zu Jahresbeginn schien die Sache eigentlich gelaufen: Drei Monate hatte eine 16-köpfige Expertengruppe versucht, Licht in die vermeintliche "Unterwelt" von St. Georgen an der Gusen zu bringen. Dann trat man mit einer klaren Botschaft an die Öffentlichkeit: Es gebe keine Beweise dafür, dass die ehemalige Nazi-Stollenanlage "Bergkristall" größer als bisher bekannt gewesen wäre oder es dort gar unterirdische Atomversuche gegeben hätte.

Wissenschaftlich zerpflückt wurden damit die Thesen des Linzer Filmemachers Andreas Sulzer, der im Zuge seiner Recherchen für einen Film über den SS-Geheimwaffenchef Hans Kammler angebliche Beweise für die Existenz noch unbekannter NS-Stollen anlagen gefunden haben will.

Doch wider Erwarten kommt jetzt erneut Bewegung in die Debatte. Im Auftrag von Oberösterreichs Umweltlandesrat Rudi Anschober (Grüne) hat der renommierte Grazer Historiker Stefan Karner in den letzten Monaten das Recherchematerial Sulzers rund um die ehemalige unterirdische NS-Rüstungsanlage erneut unter die wissenschaftliche Lupe genommen. Nach intensiver Durchsicht der historischen Dokumente rät Karner jetzt dringend davon ab, einfach den Deckel auf die braune Aktenkiste zu tun.

Weitere Prüfungen

"Das vorgelegte Material rechtfertigt eine weitere Prüfung. Ich rate dazu, dass Licht in die Sache gebracht wird. In einem wissenschaftlichen Pilotprojekt soll der Gesamtkomplex ‚Bergkristall‘ neu aufgearbeitet werden – unter Berücksichtigung aller Dokumente, ob bekannt oder bislang unbekannt", erläutert Karner im Gespräch mit dem Standard.

Ob nicht die Expertenkommission im Jänner – immerhin bestehend aus Historikern, Archäologen, Denkmalschützern und Vertretern des Innenministeriums – die besagte Sichtung der Dokumente bereits durchgeführt habe? Karner: "Nein. Den Experten lagen damals weder alle Unterlagen von Herrn Sulzer noch wichtiges Material aus diversen Archiven vor." Wobei Sulzer die Übergabe seiner Rechercheergebnisse an die Expertenrunde damals mit der Begründung, nur mit einer "internationalen Kommission" zusammenarbeiten zu wollen, bewusst verweigert hatte.

Schwarze Skepsis

Spannend wird jetzt vor allem die weitere Vorgehensweise auf Landesseite. Im Büro von Landesrat Anschober ist man nach der jüngsten Expertise von Historiker Karner durchaus bereit, sich noch einmal mit den dunklen Kapiteln der Heimatgeschichte auseinanderzusetzen. Wenig Freude an ei ner neuerlichen Vergangenheitsbewältigung hat, wie aus dem ÖVP-Umfeld zu erfahren war, Oberösterreichs Landeshauptmann Josef Pühringer (VP). Nur er ist es aber, der letztlich eine entsprechende Expertenkommission einberufen könnte.

Treffen am grünen Tisch

Die Skepsis auf schwarzer Seite ist wohl auch der Grund für die Vorsicht auf grüner Seite. Anschober plant nun zunächst einen Historikergipfel: An den grünen Tisch sollen Bertrand Perz, stellvertretender Leiter des Instituts für Zeitgeschichte an der Uni Wien, und eben der Grazer Historiker Stefan Karner. Zumindest ist im Vorfeld des Gesprächs schon klar, dass man "Bergkristall" betreffend historisch wohl nicht am selben Strang ziehen wird. Perz sieht in Sulzers Arbeit vor allem ein "Histotainment" auf Kosten der Opfer. Rund um "Bergkristall" gebe es "kein Geheimnis".

Anschober bleibt im STANDARD-Gespräch dennoch optimistisch: "Es gilt zu analysieren, welche neuen Fakten vorliegen und ob es Forschungsbedarf gibt. Wenn es nach diesem Gespräch offene Fragen gibt, dann werde ich mich für ein Forschungsprojekt einsetzen."

Unter dem Decknamen "Bergkristall" mussten Häftlinge der KZ-Lager Gusen I und Gusen II ab 1944 in nur 13 Monaten Bauzeit ein unterirdisches Flugzeugwerk für die Großserienproduktion von Messerschmitt-Me-262-Düsenjagdflugzeugen errichten. Bis zu 60.000 Menschen wurden gezwungen zu graben, mindestens die Hälfte kam ums Leben. (Markus Rohrhofer, 13.5.2015)