Europarichter Koen Lenaerts: "Der Gerichtshof ist kein politischer Akteur. Er entscheidet allein aus rechtlichen Gründen."

Christian Fischer

STANDARD: Der Europäische Gerichtshof schlägt die Erhöhung der Richterstellen am Europäischen Gericht, dem früheren Gericht erster Instanz vor. Ein solcher Plan ist schon 2011 gescheitert, weil sich die Mitgliedstaaten nicht einigen konnten. Warum soll das diesmal anders sein?

Lenaerts: Das Gericht mit seinen 28 Richtern ist völlig überlastet, weil die Zahl der anhängigen Verfahren so dramatisch steigt. Das liegt daran, dass die Union in immer neue Gebiete eintritt. Denken Sie an die Bankenunion mit ihren neuen Behörden für die Überwachung von Finanzinstitutionen. Auch die Zulassungsvoraussetzungen für Nichtigkeitsklagen von Privatpersonen gegen Rechtsakte wurden gelockert. Dadurch ist mit einem weiteren Zuwachs zu rechnen. 2011 konnte man sich nicht einigen, auch weil die Zahl der zusätzlich vorgesehenen Richterstellen – das waren damals zwölf – hinter der Anzahl der Mitgliedstaaten zurückblieb.

STANDARD: Was ist jetzt anders?

Lenaerts: Unser neuer Vorschlag besteht aus drei Phasen: In der ersten lassen wir den alten Plan mit zwölf zusätzlichen Richterstellen wieder aufleben. In der zweiten wollen wir die formale Eingliederung der sieben Richter des Beamtengerichts, die unterbeschäftigt sind, in das Europäische Gericht, damit sie nützlicher eingesetzt werden können. Und erst in der dritten Etappe wollen wir bis Ende 2019 neun weitere Richter, was dem erwarteten Anstieg an Fällen entspricht. Damit würden wir die Richterzahl auf 56 verdoppeln und das Problem der Zuteilung zwischen den Mitgliedstaaten lösen. Der Rat hat dem Plan schon zugestimmt.

STANDARD: Was sind die Folgen der jetzigen Überlastung?

Lenaerts: Die Verfahren dauern immer länger. Ein durchschnittliches Wettbewerbsverfahren dauert vier Jahre und geht oft über sechs bis sieben Jahre. Die angemessene Verfahrensdauer kann nicht eingehalten werden, und immer öfter wird Schadenersatz geltend gemacht. Das ist nicht gut für das Vertrauen in die Gerichtsbarkeit der Union und in die ganze EU.

STANDARD: Gilt die Überlastung auch für den EuGH selbst?

Lenaerts: Nein, dieser ist gut ausgelastet, aber die Zahl der Verfahren bleibt stabil.

STANDARD: Am 16. Juni wird der EuGH seine Entscheidung über das OMT-Staatsanleihenaufkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) verkünden. Dies wurde Ihnen vom deutschen Bundesverfassungsgericht vorgelegt, der in der Vorlage schon erklärt hat, dass es das Programm für gemeinschaftsrechtswidrig hält. Der Generalanwalt des EuGH ist anderer Meinung. Ist das nicht ein Problem, wenn ein nationaler Gerichtshof eines wichtigen Mitgliedstaats schon ein Urteil fällt?

Lenaerts: Nein, es ist sehr nützlich, wenn die Gerichte in den Vorlagen bereits ihre eigene Meinung zum Ausdruck bringen. Das führt dazu, dass sich die Mitgliedstaaten in ihren Stellungnahmen damit auseinandersetzen können. Das bereichert die rechtliche Debatte – und nur darum geht es.

STANDARD: Aber wer hat das letzte Wort?

Lenaerts: Über das deutsche Grundgesetz entscheidet Karlsruhe, über das Unionsrecht nur der EuGH.

STANDARD: Und wohin gehören die EZB und die Währungsunion?

Lenaerts: Das ist reines Unionsrecht. Nur in den europäischen Verträgen steht etwas über die Wirtschafts- und Währungsunion.

STANDARD: Die britische Regierung von David Cameron plant nach ihrem Wahlsieg ein Referendum über die EU-Mitgliedschaft und will bis dahin über Reformen verhandeln. Ein Streitthema ist der freie Zuzug von EU-Ausländern nach Großbritannien. Dass man über die Freizügigkeit nicht verhandeln kann, ist klar, aber welchen Spielraum haben Staaten, um diesen Zuzug zu managen?

Lenaerts: Ich habe ein Problem mit dem Ausdruck EU-Ausländer, der ist schrecklich. Bürger anderer Mitgliedstaaten sind keine Ausländer, sondern Unionsbürger. Das muss man sich endlich verinnerlichen. Wenn sie legal in einem Mitgliedstaat sind, dann haben sie ein Recht auf Gleichbehandlung. Nur bei zwingenden Gründen gibt es Ausnahmen für die Freizügigkeit. Aber der Spielraum ist sehr gering.

STANDARD: Das klingt nicht gut für Camerons Chancen, hier ohne Vertragsveränderungen Zugeständnisse zu erzielen. Aber können die Staaten zumindest Sozialleistungen verweigern? Im Fall der Rumänin Elisabeta Dano (C-333/13) hat der EuGH ja akzeptiert, dass ihr in Deutschland Hartz IV verweigert wird, weil sie gar keine Arbeit sucht.

Lenaerts: Dieser Fall hat den Mitgliedstaaten vor Augen geführt, dass das geltende Recht sehr wohl Möglichkeiten bietet, gegen einen sogenannten Sozialtourismus vorzugehen. Der Gerichtshof hat nur die Gesetzgebung, die in diesem Bereich kompliziert und nicht ganz widerspruchsfrei ist, ausgelegt. Die Auslegung, dass der Gerichtshof seine Meinung geändert hat, hier aus politischen Gründen zurückhaltender geworden ist, ist falsch. Der Gerichtshof ist kein politischer Akteur. Er entscheidet allein aus rechtlichen Gründen.

STANDARD: Österreich bereitet eine Klage gegen die Entscheidung der EU-Kommission vor, die britischen Förderungen für das AKW Hinkley Point zu akzeptieren. Österreich ist selbst von der Beihilfe nicht betroffen, sondern will nur keine Atomkraft in der EU. Ist das nicht ungewöhnlich?

Lenaerts: Nein, es kam immer wieder vor, dass Mitgliedstaaten bei Beihilfeverfahren anderer intervenierten, aber meistens waren sie selbst betroffen. Das muss aber nicht sein und wird auch nicht geprüft, denn Staaten sind privilegierte Kläger. Aber hier komme ich zu unserem ersten Thema zurück: Wissen Sie, wie lange so ein Verfahren vor dem Europäischen Gericht dauern wird? Fünf Jahre sind nicht unwahrscheinlich. Das ist doch ein starker Grund, den Reformvorschlag zu unterstützen. Wenn der Rechtsgang zeitlich blockiert wird, führt das zur Verweigerung des Rechtsschutzes. Justice delayed is justice denied. (Eric Frey, 11.5.2015)