Martín Nuñez sitzt mit Ehefrau Lety Monreal und den Kindern in der Gemeinschaftsküche seines Kinderheims Manantial de Luz.

Foto: Lisa Maria Hagen

Der Lauf der Waffe ist auf ihren Bruder gerichtet. Sie grinst, und die Milchzähne blitzen frech aus dem dunklen Gesicht. "Bum, bum", sagt Sara und drückt auf den pinken Abzug der Plastikpistole. "Lass den Blödsinn", schimpft ihre Mutter, die nicht ihre leibliche ist. Die wollte sie nicht und spritzte sich Heroin in den schwangeren Bauch. Aber Sara war stärker. Sara ist eine Kämpferin, auch ohne Waffe.

Sanft streicht die Frühlingssonne über die Dächer der mexikanischen Grenzstadt. Ciudad Juárez war einst Synonym für Drogenkrieg und korrupte Polizisten. Obwohl die Mordrate sinkt, leiden vor allem die Kinder unter den Nachwehen des Drogenkriegs. Schätzungen der Menschenrechtskommission des Bundesstaats Chihuahua (CEDH) zufolge hat die Gewalt 20.000 Minderjährige zu Waisen gemacht. Nun wachsen sie zu einer verlorenen Generation heran, denen oft nichts bleibt, als das kriminelle Erbe ihrer Eltern anzutreten.

Eine Kindheit voller Narben

Martín Nuñez ist zwei Jahre alt, als seine Mutter seinen Vater mit einem Eispickel erschlägt. Sie wird verurteilt und kommt samt Sohn ins Gefängnis. Während andere Kinder auf Spielplätzen schaukeln, tollt Martín hinterm Stacheldraht zwischen Prostituierten, Räubern und Mördern.

Heute will er verhindern, dass Drogen und Gewalt Kindheiten zerstören. Gemeinsam mit seiner Frau Lety Monreal hat er deshalb das Kinderheim Manantial de Luz gegründet, die "Quelle des Lichts". Im Wohnviertel Morelos leben die beiden mit drei leiblichen und 20 Pflegekindern in einem großen Haus. "Unsere Kinder wissen, was Elend und Einsamkeit sind, weil sie aus Familien kommen, die die Gewalt zerstört hat", sagt Nuñez. Erwachsene in Kinderkörpern nennt er sie.

Yahirs lange Narbe am Bauch erzählt von Hunger und davon, wie er Nägel aß, um ihn zu stillen. David erzählt von seinem Vater, der für eines der Drogenkartelle in Ciudad Juárez arbeitete, und wie er selbst mit Pillen handelte. "Schlimm war das mit der Gewalt", sagt David und schweigt, während seine grünen Augen die Bilder sehen. Und Sara lacht. Nuñez bezahlte damals für ihre Geburt. Die ersten Wochen, als der Entzug Saras winzigen Körper beutelte, war die Mutter längst verschwunden. Nuñez war da.

Eltern erster Wahl

Mit zwölf Jahren tritt er erstmals durch das Gefängnistor nach draußen. Alles ist anders, alles neu. Die Mutter versinkt im Drogensumpf. Martín landet ein paar Mal vor dem Jugendgericht und geht mit 16 zurück "nach Hause", ins Gefängnis. In einer Bande findet er eine neue Familie.

Im Staub der Straße tanzen die Kreisel der Kinder. Im Esszimmer segeln blonde Haarbüschel zu Boden. Der Rasierer röhrt, als Nuñez mit festen Strichen über Davids Kopf fährt. Auf Nuñez' Unterarmen schauen sich ein nacktes Pin-up-Girl und der dornengekränzte Jesus tief in die Augen. "Wenn's dir nicht gefällt, fahren wir danach eben zum Friseur", sagt Nuñez. "Es gefällt mir doch immer, Pa", sagt David.

Mit 19 begeht Nuñez seinen ersten Mord. "Er oder ich." Zurück ins Gefängnis. Mehr Morde, mehr Drogen. Dann Leere. Warum? Und für wie lange noch? Er zieht die Schlinge um seinen Hals fest, überlegt - und springt nicht. "Da habe ich mich selbst herausgefordert und beschlossen, etwas aus meinem Leben zu machen."

"Das ist ein Zuhause"

Aus dem etwas ist das Kinderheim geworden. "Das ist keine Reha für drogenabhängige Kinder und kein Waisenheim", sagt Nuñez, "das ist ein Zuhause. Wir wollen die Familie sein, die weder wir noch die Kinder je hatten." Der Staat unterstützt sie nicht, also leben sie von Spenden. Zudem hält Nuñez Präventionsvorträge an Schulen und in Gefängnissen. "Das Geld ist oft knapp, aber die Kids sind mein Motor."

Langsam schiebt sich die Sonne hinter die Hügel. Martín Nuñez hilft den Kindern bei den Hausaufgaben. David brütet über seinen Rechenaufgaben. Mathe ist nicht so seins, sagt er, braucht er später eh nicht. Er will Anwalt werden. (Lisa Maria Hagen aus Ciudad Juárez, 9.5.2015)