STANDARD: Am 8. Mai wird die Kapitulation Hitlerdeutschlands gefeiert. Was bedeutet dieser Tag für Sie persönlich?

Sasso: Der 8. Mai bedeutet für mich das Ende des fürchterlichen Krieges. Ich bin damals beim "Todesmarsch" vom KZ Ravensbrück zum KZ Bergen-Belsen geflüchtet. Für mich war das Kriegsende der 9. Mai. Es ging einher mit dem Gefühl, ein freier Mensch zu sein.

STANDARD: Als Zeitzeugin informieren Sie seit Jahren Schüler über den Nationalsozialismus. Haben Sie Veränderungen im Umgang mit diesem Thema bemerkt?

Käthe Sasso (89) wurde am Mittwoch von Bundeskanzler Werner Faymann für ihre Zeitzeugenarbeit gewürdigt.

Sasso: Der Zugang zu den Schulen ist für mich sehr wichtig. Nach 1945 hatten wir Zeitzeugen Probleme damit, denn schlussendlich sind die Menschen aus dem Faschismus dageblieben. Viele von ihnen unterrichteten an den Schulen. Sie hatten keine Freude damit, dass wir das erzählen, was sie sieben Jahre geleugnet und verschwiegen hatten. In den Schulen wird es von Jahr zu Jahr besser, die jungen Leute sind aufgeklärt.

STANDARD: Viele Schüler besuchen im Rahmen des Unterrichts niemals eine KZ-Gedenkstätte. Oft ist zu hören, das Grauen sei den Kindern nicht zuzumuten.

Sasso: Das ist eine schlechte Ansicht, denn man soll aus den Fehlern lernen. Der Nationalsozialismus hat keine Grenze gekannt. Er hat auch bei Babys und bei Schulkindern seine Fratze gezeigt. Ich könnte kein Verständnis dafür aufbringen, wenn eine Lehrkraft sagt, einem 14-Jährigen kann man das nicht zumuten.

STANDARD: Wie kam es, dass Sie sich als Teenager im Alter von 15 Jahren im Widerstand betätigten?

Sasso: 1938 war es auch für ein Kind, das einen Gerechtigkeitssinn hatte und menschlich erzogen wurde, einfach zu erkennen, was Nationalsozialismus bedeutet. 1940 musste mein Vater einrücken, 1941 verstarb meine Mutter. Ich habe dann in einer Gruppe Widerstand geleistet. Die Gruppe hieß Gustav Adolf Neustadl. Die Gestapo hatte einen Spitzel eingeschleust. Er hieß Alois Lawra.

STANDARD: Was geschah nach 1945 mit dem Spitzel Lawra?

Sasso: Wir haben ihn nach dem Krieg gesucht und gefunden. Er hat eine kleine Strafe bekommen, später starb er an Krebs. Er hatte mindestens 400 Todesurteile auf seinem Gewissen.

STANDARD: Wie erklären Sie sich, dass sich nicht mehr Menschen gegen die Nazis gestellt haben?

Sasso: Wir lebten in einer furchtbaren Zeit, die Arbeitslosigkeit war europaweit enorm, es gab keine staatliche Unterstützung. Weil die Leute betteln gehen mussten, war für die Nazis die Türe offen.

Nach dem Krieg suchte Sasso Kriegsverbrecher.
Foto: Matthias Cremer

STANDARD: In ganz Europa macht sich heute wieder zunehmend Arbeitslosigkeit breit.

Sasso: Deshalb weisen wir, die letzten Überlebenden, immer wieder darauf hin, dass der Weg dort begonnen hat. Es gilt, die Demokratie hochzuhalten, dem Faschismus in all seinen Formen mutig entgegenzutreten und auch die Regierungen aufzufordern, demokratisch zu handeln.

STANDARD: Sie haben sich dafür eingesetzt, dass den von den Nazis am Wiener Landesgericht hingerichteten Menschen ein Denkmal gesetzt wird. Warum hat das so eine große Bedeutung für Sie?

Sasso: Dass wir 1955 einen Staatsvertrag bekommen haben, verdanken wir den über 1200 im Landesgericht geköpften Menschen, deren Schicksale bereits damals gut dokumentiert waren. Ich habe dort 13 Monate in Haft verbracht. In den letzten 70 Jahren habe ich dafür gekämpft, dass am Zentralfriedhof, wo diese Menschen verscharrt wurden, eine Gedenkstätte errichtet wird. Die Mehrheit von ihnen war im Widerstand.

STANDARD: Sie haben einmal gesagt, Sie bedauern es, dass Franz Punz, einer Ihrer Peiniger im Gefängnis, nicht zur Rechenschaft gezogen wurde. Wäre der Antifaschismus stärker in der Gesellschaft verankert, hätte man die Täter angemessen bestraft?

Sasso: Das Wort Hass gibt es für mich nicht. Aber es hätte uns sehr gefreut, wenn die Täter faire Prozesse bekommen hätten. Und wenn einer von ihnen gesagt hätte: Es tut mir leid, was ich gemacht habe, ich bereue es. Punz war ein brutaler Kerl, besonders gegenüber uns Frauen. Er hat uns oft auf die Brust geschlagen. Später war er Obersturmführer. Wir haben auch ihn gesucht. Seine Nachbarn haben gesagt, er sei ein netter Mann gewesen.

STANDARD: Haben die Nazis in unsere Gesellschaft nachhaltig Spuren gebrannt?

Sasso: Nach 1945 waren diese Täter Väter und Großväter für die nächste Generation. Sie haben mit ihren Frauen über die Engländer und die Amerikaner geschimpft. Ihren Kindern haben sie ihre Gräueltaten verschwiegen, dass Hitler den Krieg begonnen hat oder dass sie in einer jüdischen Wohnung sitzen. Sie sind jetzt weg. Sie wirken nicht mehr in diesem Maß nach. (Katrin Burgstaller, 8.5.2015)

Käthe Sasso spricht im Rahmen einer Veranstaltung der Arbeiterkammer Steiermark über ihre Erlebnisse im Nationalsozialismus.
AK Steiermark