Wien – Es ist nahezu menschenleer zwischen den Häusern. Das Areal ist ruhig, abgeschieden, dörflich. Trotz des modernen Baustils und der säuberlich angeordneten Grünflächen erinnert die verschlafene Atmosphäre an einen Italowestern. Dazu passt auch, dass sich die Anrainer im "Salon am Park" treffen. Statt – wie im cineastischen Saloon üblich – Whiskey und Zigaretten gibt es hier allerdings Biolebensmittel und Fairtrade-Kaffee. In der Greißlerei mit Gastrobereich – die von einem Anrainerkollektiv nebenberuflich betrieben wird – herrscht Wohnzimmeratmosphäre: Gäste, Kunden und Betreiber frühstücken oder kaufen ein und plaudern dabei miteinander.

derstandard.at/von usslar

"Es ist mein kleines Dorf in der Stadt", sagt Beatrice Stude, die seit vier Jahren im Nordbahnviertel in der Wiener Leopoldstadt wohnt. Auf dem 85 Hektar großen Stadtentwicklungsgebiet entstehen bis zum Jahr 2025 rund 10.000 neue Wohnungen. Auch Peter Rippl lebt seit einigen Jahren hier und engagiert sich – wie Beatrice Stude – in der Initiative "Lebenswertes Nordbahnviertel".

Die Lebenssituation sei anfangs ähnlich wie beim Umzug in eine neue Stadt, sagt Stude. Man suche Kontakte, lerne die Rahmenbedingungen kennen. Wer sich dieses Wohnviertel aussucht, sei aber schon von vornherein ein kommunikativer und nachbarschaftlicher Mensch, meint Rippl.

Der Judith-Deutsch-Steg auf Höhe der Holubstraße wurde am 6. Mai eröffnet.
Maria von Usslar

Kontakte zu knüpfen ist nicht nur auf zwischenmenschlicher Ebene ein Thema. Denn obwohl sich der neue Stadtteil auf dem Gelände des ehemaligen Nordbahnhofs mitten in der Stadt befindet, ist er weitgehend abgeschnitten von seinem Umfeld. Der Zugang zur Donau wurde erst vor wenigen Tagen mit der Eröffnung des Judith-Deutsch-Stegs ermöglicht. Jahrelang war er durch den Handelskai behindert. Das Stuwerviertel wird nach wie vor durch die mehrspurige, stark befahrene Lassallestraße abgetrennt. Um in das Alliiertenviertel zu gelangen, würden Fußgänger "inoffizielle Übergänge" nutzen, um nicht die Bahngleise umrunden zu müssen, erzählen Rippl und Stude. Das Grätzel an umliegende Bezirke und Infrastruktur anzuknüpfen werde eine der größten Herausforderungen für die Stadtplaner werden.

Bildungscampus für 1.300 Kinder

Einbringen will sich die Initiative auch beim Bildungscampus, der auf einer Fläche von vier Hektar bis 2021 für 1.300 Schülerinnen und Schüler entstehen soll. Rippl und Stude wünschen sich, dass "Durchwegungen" eingeplant werden, dass der Komplex nicht zu einem störenden Fremdkörper im Grätzel wird.

Geht es nach ihnen, sollen am Campus auch Einrichtungen entstehen, die von allen genutzt werden können – etwa eine Bücherei oder ein Grätzelzentrum. Räumlichkeiten – wie Sportsäle – sollen geöffnet oder mehrfachgenutzt werden. Um solche Ideen auch mit Experten und Stadtvertretern zu diskutieren, organisiert die Initiative regelmäßig "Nordbahnhofvorlesungen".

Maria von Usslar

"Wir können viel Input einbringen, weil wir hier wohnen und die Probleme kennen", sagen die zwei Engagierten. Bisher sei die Bürgerbeteiligung mit den Stadtbüros sehr partnerschaftlich verlaufen. Frust gegenüber der Stadt brauche sich nicht einzustellen, wenn man früh genug beginne, sich einzubringen. "Wir wollen nicht verhindern, sondern mitgestalten, und wissen, dass wir nicht an allem rütteln können."

Die Stadt müsse aber erkennen, dass das Nordbahnviertel mehr kann, als nur Wohnraum zu schaffen. Es müsse wie eine Kleinstadt gedacht werden, in der auch kulturelle Einrichtungen, Geschäfts- und Gastrolokale und vieles mehr Platz finden könne. Bisher sei es – mit Ausnahmen wie dem "Salon am Park" – nur ein Wohnstandort. (Christa Minkin, 12.5.2015)

Die Karte: Überblick über die Grätzel-Besuche