Die Ausstellung "Lumière: Le cinéma inventé" im Pariser Grand Palais blickt auf die Anfänge des Kinos zurück.

Foto: Pascal Amoyel

Zu den Legenden, die sich um die erste Filmvorführung im Dezember 1895 ranken, gehört jene, die Einfahrt des Zuges in den Bahnhof von La Ciotat habe die Zuschauer zu Tode erschreckt. Sie lässt sich leicht widerlegen, denn die Brüder Auguste und Louis Lumière drehten die Szene erst zwei Jahre später.

Die Wahrheit über diesen epochalen Abend ist aber nicht prosaischer, sondern poetischer als der Mythos. Die ersten Kinogänger waren fasziniert davon, wie sich in einem tatsächlich gezeigten Film die Blätter im Wind bewegten. Diesem neuen Apparat, dem seine Erfinder den Namen "Cinématographe" (Bewegungsschreiber) gaben, gelang es, die Realität in aller Lebendigkeit zu erwischen.

Dieses arglose, überwältigte Staunen lässt sich 120 Jahre später nicht mehr herstellen, aber rekonstruieren. Die Ausstellung Lumière: Le cinéma inventé im Pariser Grand Palais unternimmt dies mit gewissenhafter Opulenz. In ihrem Schauplatz, dem hohen Ehrensaal des Pariser Museums, hat sie einen prächtigen Verbündeten. Wie die Kuratoren Jacques Gerber und Thierry Frémaux zusammen mit ihrer Szenografin Nathalie Criniére diesen Raum bespielen, ist atemraubend. Schon das Plakat der Schau fängt den Elan ein, der Gegenstand und Präsentation bestimmt: Mit jugendlichem Übermut springt Auguste vor Louis' Kamera über einen Stuhl. Die Momentaufnahme von 1888 zeigt, wie sehr ihre Schaulust auf die Bewegung drängte.

"Bewegungsschreiber"

Die Ausstellung bettet die Erfindung der Lyoner Brüder vielfach ein. Einerseits in die Familien- und damit auch die Industriegeschichte Frankreichs: Vater Antoine war ein erfolgreicher Fotograf und talentierter Maler, dessen optische Werke im Lyoner Stadtteil Monplaisir prosperierten. Die berühmte Aufnahme der Arbeiter, die das Werktor verlassen, ist gewissermaßen der erste Werbefilm.

Zugleich stellt die Schau den "Cinématographe" in eine Kontinuität der Erfindung bewegter Bilder. Sie präsentiert Vorläufer des Kinos wie die Laterna Magica und Wegbereiter wie Edisons Kinetoscope. Sie verweist auf Zeitgenossen, die das künstlerische und industrielle Potenzial des neuen Mediums weiterentwickelten, den Magier Georges Méliès sowie die Konzerne Gaumont und Pathé, die unmittelbar nach der ersten Filmvorführung entstanden.

Die Entdeckung des Kinos reklamieren zwar auch andere Pioniere in den USA und Europa für sich. In der Ausstellung wird jedoch greifbar, weshalb die Lumières den Mythos mit der größten Durchsetzungskraft begründeten. Bei ihrer Erfindung kam technisch alles zusammen, was vorher fehlte. Mit ihrem Apparat ließen sich Filme aufnehmen, entwickeln und vorführen. Er fand rasante Verbreitung. Die Operateure, die die Brüder in alle Kontinente aussandten, etwa Alexandre Promio oder Gabriel Veyre, gewinnen eigene Kontur als Abenteurer des Bildes. Dank ihnen lernte die Welt die Welt kennen.

Geflissentlich verschweigt die Ausstellung, dass Louis selbst dem Cinématographe zunächst keine große Zukunft voraussagte. Als seine bedeutendste Leistung sah er die Entwicklung des "Autochrome" an, des ersten kommerziellen Verfahrens der Farbfotografie. Ihm eignet eine malerische Pracht und Körnigkeit, die an den Postimpressionismus erinnert. Die Zukunftstrunkenheit der Lumières war unermüdlich.

3-D aus dem Jahr 1935

Auf der Pariser Weltausstellung von 1900 präsentierten sie Städtepanoramen im 360-Grad-Winkel, von denen eines unter der Decke des Salons schwebt, und experimentierten mit dem 70-mm-Format. 1935 führte Louis ein 3-D-Verfahren vor, das sich an Experimente mit stereoskopischer Fotografie anschließt, die er bereits vier Jahrzehnte zuvor unternahm. Ein Remake der Einfahrt des Zuges ist, sofern man den richtigen Abstand hält, auch ohne Brille in staunenswerter Plastizität zu sehen.

Das spektakulärste Element der Ausstellung findet sich in der Tiefe des Salons. Dort werden alle 1400 noch erhaltenen Filme gleichzeitig an die Wand projiziert. Dieses monumentale Wimmelbild sowie die davor installierten Monitore, auf denen einzelne Filme nach Genres abgerufen werden können, widerlegen eine weitere Legende.

Tatsächlich haben die Lumières beide Schulen des Kinos begründet, die dokumentarische wie die narrative. Die Fiktion hielt nicht erst mit Méliès Einzug ins neue Medium. Die Brüder filmten burleske Situationen, rekonstruierten historische Szenen. Deren Komposition und Dramaturgie weisen sie als die ersten wirklichen Filmemacher aus, die ein untrügliches Gespür dafür besaßen, die Kamera stets genau an der richtigen Stelle zu postieren. (Gerhard Midding, 5.5.2015)