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Die Zwischenkriegszeit traf Arbeiter, Arbeitslose und Bauern in Polen hart. In Autobiografie-Wettbewerben bekamen sie eine Stimme.

Foto: picturedesk.com / Mary Evans

Wien - In Extremsituationen wie Hungersnöten stößt eine Rechtsordnung, die von den Wohlhabenden geschrieben wird, an ihre Grenzen: "Neben dem Gesetz des Hungers ist das Gesetz der Menschen eine bloße Erfindung." – In diesem Satz eines anonymen Arbeitslosen von 1933 breitet sich eine Konfliktlinie aus, die Polen in der Zwischenkriegszeit bestimmt: Bauern und Arbeiter verarmen, obwohl sie als Rückgrat des Landes gelten. Gleichzeitig entscheidet eine wohlhabende Klasse über sie, die der Unterschicht die politische Mitbestimmung aberkennt.

Die polnische Soziologie wählte damals die Seite der Rechtlosen. Polnische Sozialwissenschafter sammelten in Wettbewerben die verschriftlichten Lebenserfahrungen der Bauern, Arbeitslosen und der Jugend. Poznan und Warschau entwickelten sich so in den 1920ern zu zwei Brennpunkten qualitativer Forschung.

Im Rahmen des Elise-Richter-Programms des Wissenschaftsfonds FWF erforscht die Historikerin Katherine Lebow die Autobiografie-Wettbewerbe der Zwischenkriegsjahre. Die große Beteiligung des sogenannten kleinen Mannes an der Sozialforschung ist auch heute noch erstaunlich: Nur etwa 20.000 der ehemals 900.000 Manuskripte blieben im Warschauer Archiwum Akt Nowych erhalten. Nun geben die Schriftstücke Zeugnis über die Rolle der Wissenschaft im Kampf um soziale Rechte wie Essen, Wohnung und Ausbildung.

Auf in die dunklen Absteigen

Weg vom Schreibtisch, hinein in die Bars und Absteigen, zu den Menschen - die sogenannte Chicagoer Schule der humanistischen Forscher in den 1920ern wollte ihren Untersuchungsobjekten im Leben begegnen. Qualitative Forschung kehrt der bloßen Beschreibung der Wirklichkeit durch Zahlen den Rücken zu. In Interviews, mit Briefen und Beobachtungen wollten Forscher schon damals Hintergründe erkunden, die den Ziffernfolgen und Fakten der quantitativen Forschung verborgen blieben.

Der Pole Florian Znaniecki und sein US-amerikanischer Kollege William I. Thomas lieferten mit The Polish Peasant in Europe and America einen Klassiker der Soziologie. Das Buch zeichnet die Lebensumstände polnischer Migranten anhand von Briefen und Erzählungen nach und scheut nicht davor zurück, den Betroffenen eine eigene Stimme zu verleihen.

Mit dem gleichen Anspruch, aber einer strengen Methodik kehrte Znaniecki nach Polen zurück. Der Memoiren-Wettbewerb war geboren: Die Unterschicht schrieb für eine Urkunde oder Preise authentische, aber nicht unbedingt ästhetische Texte. Das Institut für Soziologie fasste ausgewählte Erzählungen in Buchform zusammen und präsentierte es öffentlich – auch der Obrigkeit.

Unter den damaligen Forschern galten schlecht ausgebildete Menschen oft als unverlässliche Quelle. Über Armut zu urteilen überließ man den Wohlhabenden. Dabei war die Bereitschaft mitzureden bei den verarmten Arbeitern und Bauern groß: Die Wettbewerbe begannen 1922 mit 149 Einsendungen und erreichten nach dem Zweiten Weltkrieg bei einem Aufruf für Jugendliche mehr als 5500 Beiträge. Die Autobiografieausschreibungen entwickelten sich zum Instrument verschiedener Sozialwissenschafter in ganz Polen, und auch die Aufmerksamkeit von außen wuchs.

"Memoiren der Arbeitslosen"

"Wach auf, menschliches Gewissen!", schrieb Ludwik Krzywicki von der Wirtschaftsuniversität Warschau in seinem Vorwort zu den 57 veröffentlichten "Memoiren der Arbeitslosen". Der Marxist machte keinen Hehl aus der politischen Agenda seiner Forschung. Und er hatte damit Erfolg: Die persönlichen Leidensgeschichten von der verzweifelten Suche nach Arbeit ersetzen im Diskurs den Mythos vom faulen Arbeitslosen.

Wie soll eine Gesellschaft mit jemandem umgehen, der aus Hunger stielt? Die Erinnerungen werfen rechtliche Fragen auf und richten sie direkt an den Leser: "Hast du jemals von jemanden gehört, der vom Hunger regiert wurde? Es ist töricht zu sagen, dass er sich wie ein Tier verhält." Wer das Gesetz des Hungers nicht kennt, so der Erzähler, könne nicht über die Hungrigen bestimmen.

Heilsames Schreiben

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen hatten ihre eigene Motivation, um einzusenden. Manchen ging es um einen Preis – es gab kleine Geldbeträge, Ausflüge oder Bücher zu gewinnen. Andere erhofften sich eine schriftstellerische Karriere, oder sie schrieben sich ihre Probleme von der Seele.

"Wie heilsam Schreiben sein kann, zeigte später die Durchführung der Wettbewerbe bei den Randgruppen der Gesellschaft. Jüdische Forscher vom Yiddish Institute for Jewish Research (YIVO) schafften mit eigenen Wettbewerben 1932, 1934 und 1939 eine Plattform für Erinnerung und Verarbeitung von Traumata.

"Verschiedene Akteure nutzten die Autobiografie als alternativen Diskurs um die Grenzen von Exklusion und Inklusion zu verschieben", sagt die Historikerin. So begannen auch besonders viele Frauen zu schreiben, was damals aber unhinterfragt blieb.

Die Publikationen waren trotz oder gerade wegen ihrer Wirkung umstritten. Kritiker vermissten einen objektiven Blick. Aber die absolute Wahrheit war nicht das Ziel der Forscher, vielmehr ging es Znaniecki um die Erzählungen selbst. Denn letztlich war es für die Menschen egal, wie sich die objektive Wirklichkeit gestaltete. Die eigene Wahrnehmung der Welt bestimmte ihr Handeln. Genau diese Gedanken wurden von den Memoiren aufgegriffen und den Wissenschaftern zugänglich gemacht.

Misstrauen in Subjektivität

"Für Znaniecki waren eine persönliche Perspektive des Forschers und ein hoher methodischer Standard kein Widerspruch", sagt die Historikerin am Wiener Wiesenthal-Institut für Holocaust-Studien. Die wachsende Gruppe der Positivisten in den USA sah das anders. Das Social Science Research Council in New York attestierte dem "Polish Peasant in Europe and America" methodische Mängel – die Quellen und Ergebnisse seien zu subjektiv.

Mit diesem Urteil und dem Einsetzen des Kalten Krieges gingen die reiche Textkritik und Methodik der qualitativen Forschung in den USA verloren. Erst in den 1970ern und 1980ern näherte sich die Sozialwissenschaft den qualitativen Methoden wieder an.

Lebow spricht heute dem Internet eine ähnliche Wirkkraft zu wie den Autobiografie-Wettbewerben: "Viele persönliche Geschichten werden im Netz erzählt." Eine Einladung der Sozialwissenschafter brauchten Menschen daher heute nicht mehr, um mit ihrer Geschichte die Öffentlichkeit zu erreichen. (Marlis Stubenvoll, 11.5.2015)