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Zahlreiche Proteste gegen Gewalt an Frauen gab es in der Türkei Anfang dieses Jahres nach der brutalen Ermordung von Özgecan Aslan.

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Hidayet Şefkatli Tuksal: "Es reicht nicht, wenn nur auf legaler Ebene Frauen Rechte gegeben werden."

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dieStandard.at: Welche speziellen Probleme haben Frauen in der Türkei?

Tuksal: Auf rechtlicher Ebene gibt es kaum Probleme. Dazu beigetragen hat die konsequente Arbeit der Frauenrechtsbewegungen, aber auch die EU-Beitrittsverhandlungen. Im Zuge der Vorbereitungen auf den Beitritt hat die Türkei die internationalen Menschenrechte über ihre eigenen Gesetze gestellt. Was die Umsetzung angeht, da mangelt es noch. Es wurden immer noch keine effektiven Lösungen gefunden, wenn es um Gewalt an Frauen geht. Zusätzlich hat sich die Gleichstellungsrhetorik der Regierung zu einer entwickelt, die ein sehr traditionelles Geschlechterbild hat. Die Regierungspartei ist grundsätzlich konservativ. Die religiösen Gruppen, die stark und einflussreich sind, vertreten auch ein veraltetes Geschlechterverständnis.

dieStandard.at: Was sind also die Hindernisse auf dem Weg zu einer geschlechtergerechten Gesellschaft?

Tuksal: Jeder bemüht sich auf diesem Weg, aber es gibt auch einen patriarchalen Widerstand. Die Zahl der Frauenhäuser wurde zwar erhöht, aber trotzdem ist das nicht genug. Geschiedene Frauen werden schief angesehen, oft wird die Scheidung mit dem Tod quittiert. Problematisch ist, dass sich Männer solidarisieren. Es reicht nicht, wenn nur auf legaler Ebene Frauen Rechte gegeben werden. Männliche Gewalt wird oft nur theoretisch bestraft.

Ein Beispiel: Eine Freundin von mir hat sich scheiden lassen, daraufhin terrorisiert sie der Mann telefonisch und droht ihr. Sie zeigt ihn wegen Drohung an und er wird verurteilt, doch er bekommt die niedrigste mögliche Strafe, nämlich Sozialdienst. Der Richter unterhält gleichzeitig eine Schule und hat ihm den Sozialdienst an seiner eigenen Schule angeordnet. Der männliche Direktor der Schule hat unterschrieben, dass der Mann seine Strafe abgeleistet hat, was aber nicht geschehen ist, weil der Mann sowohl vom Richter/Direktor als auch von der Gesellschaft nicht als Täter, sondern als Opfer betrachtet wurde. In der Türkei scheinen Frauen zwischen Tradition und Modernität, hin- und hergerissen zu sein.

dieStandard.at: Wie leben Frauen in dieser Zerrissenheit?

Tuksal: Die Basis des Problems ist, dass der Frau in der Familie immer noch die traditionelle Rolle zugewiesen wird. Hausarbeit oder Kindererziehung sind weiblich konnotiert. Egal ob säkular oder religiös, wenn die Frau arbeitet, wartet immer noch viel Arbeit auf sie zu Hause. Außerdem gibt es in den wichtigen Positionen keine weiblichen Entscheidungsträger. Was die Parteien der Mitte anbelangt, haben Frauen gar keinen Platz in entscheidenden Positionen. Immer noch nicht. Bei der HDP (Halkların Demokratik Partisi/ Demokratische Partei der Völker) ist es anders. Sie haben eine Partei der Gleichberechtigung und eine doppelte Führungen, da gibt es Frauen in allen Entscheidungsgremien und die meisten Kandidatinnen.

dieStandard.at: Sie meinen, Feminismus und Islam seien kompatibel, viele sehen das als Widerspruch.

Tuksal: Der Islam redet nicht für sich selbst, wir reden für den Islam. Ich rede nicht von dem einen Islam, sondern viel eher von unterschiedlichen Verständnissen. Es gibt nicht den einen Islam, und es gibt nicht den einen Feminismus. Mein islamisches Verständnis trifft sich mit dem feministischen. Ich bezeichne mich als religiöse Feministin.

dieStandard.at: Was ist das Kopftuch für Sie?

Tuksal: Ich entscheide mich für ein religiöses Gebot. Kopftuchtragende Frauen haben wie alle anderen auch verschiedene Ideologien, Zugänge, Verständnisse des Islam und vom Leben. Somit kann man nicht vom Kopftuch als einem ideologischen Symbol sprechen. In den letzten vierzig Jahren gab es einen gesellschaftlichen Zwang, sich unbedingt europäisch zu kleiden. Für mich und viele andere ist da das Kopftuch eine Möglichkeit, dagegen zu protestieren. Dadurch, dass das Kopftuch als ideologisch verstanden wird, stellt sich die Frage, ob das Nichtkopftuchtragen nicht auch eine Ideologie repräsentiert. Diese Frage stellt sich keiner.

dieStandard.at: Immer wieder wird das Tuch auch als Zeichen der Unterdrückung betrachtet. Woher kommt das?

Tuksal: Im Islam geht es um ein Bedecken. Das Tuch ist nur ein Teil davon. Als Frau, aber auch als Mann, soll man sich in der Gesellschaft bescheiden kleiden. Auch da kann man es übertreiben, manche werden komplett unsichtbar.

Das Beispiel Türkei hat uns gezeigt, dass es kein Unterdrückungssymbol sein kann, denn wäre es ein Symbol des Mannes über die Frau, hätten nicht so viele Männer und Funktionsträger von ihren Frauen verlangt, dass sie es wegen dem Verbot runtergeben (Anm.: Das Kopftuchverbot an öffentlichen Einrichtungen gilt in der Türkei seit 1997. 2014 wurde eine teilweise Aufhebung vorgenommen) und ihrem Leben nachgehen. Wäre das Kopftuch ein Unterdrückungsmittel, hätten die Frauen sich unterdrücken lassen und auf die Männer gehört, viele haben sich das aber nicht gefallen lassen.

Die Bedeckung darf aber auch nicht aufgezwungen werden, das ist inakzeptabel. Es muss die freie Entscheidung der Frau sein, so wie auch das Wie. Die Vielfalt muss da zugelassen werden. Ein Zwang zur Bedeckung oder Nichtbedeckung von privater oder staatlicher Seite verstehe ich als Angriff auf die Rechte und Persönlichkeit der Frau. Grundsätzlich sollte sich da niemand einmischen.

dieStandard.at: Bei ihrer Forschung haben Sie die Überlieferungen der Aussprüche des Propheten Mohammed auf ihre Frauenfeindlichkeit hin geprüft. Was waren Ihre Ergebnisse?

Tuksal: Der Koran hat sich auf die Probleme der Frauen dieser Zeit bezogen und ihnen auch konkrete Lösungen angeboten. Vor dem Islam erbte die Frau nicht, der Koran brachte ihr das Erbrecht, sie wurde mit dem Islam zum politischen Subjekt, zum Individuum unabhängig vom Mann und hat Partizipationsmöglichkeiten erhalten. Sie hat auch ökonomische Freiheiten bekommen und das Recht auf Scheidung, die Polygamie wurde eingeschränkt. Für diese Zeit und diese Gesellschaft hat der Islam sehr progressive Lösungen angeboten. Bis zur Moderne war der Islam die fortschrittlichste Religion.

dieStandard.at: Mehrheitlich muslimische Länder sind heute nicht sehr progressiv, was die Rolle der Frau angeht.

Tuksal: Die Rechte der Frauen sind im Islam verankert, oft nutzen sie die Frauen nicht in der Praxis und kennen sie auch nicht. Im 18. Jahrhundert kann man von einem Beginn der Frauenbewegung sprechen. In muslimischen Ländern gab es dann aber zwei Lager: Die einen unterstützten die Frauenbewegungen und sahen darin keinen Widerspruch zu ihrer Religion und auch kein Hindernis, diese anzunehmen. Die anderen sahen darin ein Problem. Diese Traditionalisten glauben, dass das Höchste mit dem Islam bereits erreicht wurde und, dass mehr Rechte nicht nötig seien. Außerdem sehen sie die Frauenbewegung als etwas Westliches.

dieStandard.at: Der Völkermord an den Armeniern war kürzlich wieder ein großes Thema. Sie haben sich dafür entschuldigt. Warum?

Tuksal: Dieses Thema ist ein schwieriges für die Türkei. Viele wollen es nicht akzeptieren und diffamieren was geschehen ist als Lüge. Wir wissen, dass ein Völkermord begangen wurde. Wir haben die Kampagne "Wir entschuldigen uns (bei den Armeniern)" gestartet und wollten somit die Diskussion eröffnen und ein Tabu brechen. (Nermin Ismail, dieStandard.at, 5.5.2015)