Dalia Ziada befindet, dass der Arabische Frühling das beste war, was ihrer Generation passieren konnte.

Foto: Standard/Tugba Ayaz

Ägypten tut sich schwer, die menschenrechtliche Situation zu verbessern, weil es mit Terrorismus inner- und außerhalb des Landes zu kämpfen hat, meint Ziada.

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derStandard.at: "Wer in Ägypten die Regierung und ihre Narrative kritisiert oder Menschenrechtsverletzungen aufdeckt, riskiert, ins Gefängnis zu wandern", sagt Amnesty zur derzeitigen Lage in Ihrem Land. Fühlen Sie den Druck?

Ziada: Das ist ein übertriebenes Statement. Human Rights Watch und Amnesty International, die großen Menschenrechtsorganisationen, verstehen nicht, was in Ägypten passiert. Ich sehe mich selbst als Oppositionelle, ich bin nicht Teil der Regierung. Ich schreibe eine wöchentliche Kolumne in einer Zeitung. Und manchmal schreibe ich Dinge, die vollkommen gegen die Richtung der Regierung sind. Trotzdem bin ich nicht im Gefängnis oder werde misshandelt.

derStandard.at: Wie kommen dann viele NGOs zu diesem Urteil?

Ziada: Diese Menschenrechtsorganisationen sprechen für eine Gruppe, die die Gesetze dermaßen gebrochen hat, wie es in anderen Ländern auch nicht toleriert würde – die Muslimbrüder, die sich jetzt als Opposition in Ägypten präsentieren. Oder auch als Repräsentanten der Revolution. Das ist interessant, weil sie nicht einmal von Beginn an Teil der Revolution waren, sondern erst, als sie wussten, dass es ein Erfolg wird. Außerdem sind sie nicht die einzige Opposition. Es gibt viele politische Parteien und Gruppen, die jetzt frei agieren können. Sie bereiten sich auf die Parlamentswahl vor. Sie kritisieren die Regierung jeden Tag, niemand hält sie davon ab. Natürlich ist nicht alles bestens im Land. Wir sind noch nicht demokratisch und offen, aber es ist jetzt viel besser als unter Mubarak.

derStandard.at: Was ist mit Journalisten? Sie können in Ägypten nicht mehr recherchieren, sobald sie die Opposition treffen.

Ziada: Natürlich, weil die Muslimbruderschaft eine Terrororganisation ist. Wer diese Leute trifft, wird befragt werden über die Gründe. Journalisten haben es nun viel einfacher. Vor einer Woche wurde ein TV-Moderator von seinem Chef rausgeschmissen, weil er regimekritische Dinge gesagt hat. Aber der Präsident selbst sorgte dafür, dass er wieder zurück in seinen alten Job konnte, obwohl er ihn kritisiert hatte.

Es gibt natürlich Baustellen, zum Beispiel die Demonstrationsgesetze. Nach den Revolutionen hat die Regierung angenommen, die Situation mit strengen Demonstrationsgesetzen stabilisieren zu können, die genau regeln, wann, wo und in welcher Form demonstriert werden darf. Das ärgert viele Ägypter. Meine Organisation und andere versuchen die Regierung zu überzeugen, dieses Gesetz aufzugeben oder zumindest zu ändern, damit Leute nicht ins Gefängnis müssen, wenn sie ohne Erlaubnis demonstriert haben.

derStandard.at: Wird der rigide Umgang mit der Muslimbruderschaft eine Gegenreaktion erzeugen? Immerhin wurden jetzt auch sehr viele von ihnen zu Todesstrafen verurteilt.

Ziada: Was die westlichen Medien nicht sehen wollen, ist, was davor passiert ist. Die Todesstrafen sind Resultat von Untersuchungen der Straftaten, die die Muslimbrüder in den letzten zwei Jahren begangen haben. Wir haben auch eine Kampagne, die die Straftaten der Muslimbruderschaft dokumentiert. Wir haben 4.000 davon registriert – inklusive Morden und Anschlägen. Natürlich hoffen wir, dass irgendwann der Moment da ist, an dem wir uns von der Todesstrafe verabschieden. Auch gegen die jetzigen Todesurteile kann noch berufen werden. Solange der Weg der Justiz beschritten wird, befinden wir uns auf dem richtigen Weg.

derStandard.at: Ist die vorläufige Repression gegen Teile der Bevölkerung der einzige Weg zu Stabilität?

Ziada: Ich möchte eines zu bedenken geben: Es ist leichter, die Menschenrechte in einem Land zu stärken, das von Korruption gekennzeichnet ist, aber es ist nahezu unmöglich in einem Land, in dem auch noch der Terrorismus auf der Tagesordnung steht. In Ägypten ist das leider der Fall; sowohl innerhalb unserer Landesgrenzen, als auch außerhalb. Wir müssen zuerst die Terroristen im Zaum halten, dann erst kann man die Menschenrechte wirklich schützen. Der Terrorismus bietet den Regierungen natürlich auch eine gewisse Legitimität, an Praktiken festzuhalten, die nicht zu begrüßen sind. Zum Beispiel, dass es Ausgangssperren gibt für gewisse Zeiten. Oder dass die Gesetze demensprechend streng sind, um die Bevölkerung zu schützen.

derStandard.at: Bietet nicht ebendiese harte Repression wieder Raum für neue extremistische Gruppen? Könnte zum Beispiel auch der IS in Ägypten Erfolge erzielen?

Ziada: Das ist derzeit sehr schwierig. Wir haben schon eine islamistische Gruppe, die nun die Muslimbrüder ablösen will in der Politik: Die Salafisten. Sie haben nicht so viel Rückhalt, weil sie extremer sind. Die Muslimbrüder wurden dagegen von der Bevölkerung sehr idealisiert. Sie waren auch sehr clever, weil sie durch ihre Krankenhäuser und Moscheen viele Leute mobilisieren konnten. Die Salafisten grenzen sich vom Rest der Bevölkerung ab. Die Mehrheit will das nicht noch einmal wiederholt wissen. Viele wollen eine Regierung, die sich nicht über die Religion definiert – und auch nicht über das Militär. Ich weiß, dass auch der Status, den wir jetzt haben, nicht gut ist, aber es ist die einzige Option. Wer sonst könnte Ägypten steuern? Es gibt keine Parteien, die das könnten. Die einzige Partei, die je stark war, war Hosni Mubaraks Nationaldemokratische Partei. Natürlich wird das von der Bevölkerung nicht mehr akzeptiert, genauso wenig die Islamisten.

derStandard.at: Worin unterscheidet sich das Ägypten unter al-Sisi von jenem unter Mubarak?

Ziada: Wirtschaftlich stehen wir jetzt natürlich schlechter da. Aufgrund der Instabilität gibt es jetzt weniger Investments, weniger Tourismus. Demokratiepolitisch gesehen ist die Verfassung nun um vieles besser. Das erste Mal wird auch erwähnt, dass Frauen und Männer vor dem Gesetz gleich sind. Es wird kein Bezug auf die Scharia genommen. Das ist eine große Sache und macht Hoffnung. Wir sind auf dem richtigen Weg.

derStandard.at: Sie würden sagen, dass der Arabische Frühling also doch noch einen positiven Abschluss gefunden hat?

Ziada: Ja, das ist eines der besten Dinge, die unserer Generation passieren konnten. Natürlich gibt es besorgniserregende Entwicklungen bezüglich des Terrorismus in der Region. Aber die Leute sind trotzdem aufgewacht in Ägypten. Das gilt auch für andere Länder wie Tunesien. Und es ist nun einmal der Frühling: manchmal ist es windig, dann regnet es, und dann ist es wieder sonnig.

derStandard.at: Sie selbst wollen, sobald Sie 40 sind und gewählt werden können, als Präsidentschaftskandidatin in Ägypten antreten. Glauben Sie, dass Ägypten im Jahr 2022 bereit ist für eine Präsidentin?

Ziada: Derzeit jedenfalls noch nicht. Es wird immer noch erwartet, dass wir Frauen in der Küche bleiben. Wir sind zwar bei den Demonstrationen präsent, aber sobald die vorbei sind, heißt es wieder: Komm, ich begleite dich nach Hause. Als Frauen selbstorganisiert am Tahrir-Platz für Frauenrechte demonstrieren wollten, sind Männer gekommen und haben sie nach Hause geschickt, weil man sie jetzt nicht hierhaben wollte. Das ist verrückt.

derStandard.at: Ist die Anzahl der sexuellen Übergriffe, von denen man während der Proteste regelmäßig gehört hat, zurückgegangen?

Ziada: Es gibt viele Initiativen, aber am Ende des Tages hat das Problem mit dem Geisteszustand der Täter zu tun. Diese Männer sehen sexuelle Belästigung nicht als Problem, sondern als etwas Cooles. Das zu ändern, wird dauern. Aber es gibt jetzt wenigstens TV-Spots im Fernsehen und auch Zusätze in Gesetzen bezüglich sexueller Übergriffe.

derStandard.at: In den letzten Wochen sind hunderte Flüchtlinge im Mittelmeer umgekommen. Was würde sich Ägypten von der Europäischen Union erwarten, um diesem Problem zu begegnen?

Ziada: Was immer auch in Ägypten passiert, hat auch einen Effekt auf Europa. Wir sollten die wirtschaftliche Zusammenarbeit forcieren. Auch auf dem politischen Level muss sie gegeben sein. Die EU sollte aufhören, Ägypten dauernd zu kritisieren, immerhin sind das unsere ersten Babyschritte Richtung Demokratie. Hilfreicher wäre es, wenn uns beigebracht wird, wie wir Ziele erreichen können. Wenn es zum Beispiel Kritik an der Polizei gibt, könnten europäische Einheiten die ägyptischen Einheiten trainieren. Wer sagt, dass unsere Wahlen nicht fair und frei sind, soll uns zeigen, wie es gemacht wird. Wichtig wäre auch, dass sich Europa im Kampf gegen den Terrorismus stärker einbringt. (Teresa Eder, derStandard.at, 5.5.2015)