Bild nicht mehr verfügbar.

Frankreichs Linke stütze statt benachteiligte Bevölkerungsschichten eher Blasphemie - so die Kritik an der "Charlie Hebdo"-Solidarität.

Foto: EPA / Ian Langsdon

Er schwieg verdächtig lang. Emmanuel Todd, einer der profiliertesten und temperamentvollsten Denker Frankreichs, hatte sich bisher nicht zu den Terroranschlägen geäußert, die im Jänner in der Redaktion von "Charlie Hebdo" und in einem jüdischen Supermarkt 17 Todesopfer forderten. Er blieb Großkundgebungen genauso fern wie Talkshows, nahm keine Journalistenanrufe entgegen.

Untätig blieb Todd aber nicht. Im Stillen tat der 63-jährige Soziologe, was er schon immer getan hatte: Er sichtete Karten, Zahlen, Statistiken - diesmal zu den Solidaritätsumzügen unter der Devise "Je suis Charlie". Dann griff Todd in die Tasten. Das Produkt, ein 250-seitiger Essay mit dem harmlos klingenden Titel "Wer ist Charlie?" ist soziologisches Dynamit.

Wenig Arbeiter unter Demonstranten

Todd unterstellt der Linken, das heißt seinem eigenen politischen Lager, eine "hysterische" Reaktion in einem "katholisch-reaktionären" Geiste "à la Vichy". Sein empirischer Beleg: Die meisten Teilnehmer kämen, so eruierte er, aus der gehobenen Mittelklasse; und zwar in Regionen und Städten, die historisch gegen den Laizismus und für den Katholizismus eingetreten seien. Unter den vier Millionen "Charlie-Hebdo"-Demonstranten hätten sich mehr Kaderangestellte als Arbeiter befunden.

Der eigenwillige Demograf sieht darin ein Zeichen, wie sehr sich die Linke von der Arbeiterklasse in den Immigranten-Vorstädten - und damit auch von ihrem Gleichheitsideal - entfernt habe. Präsident François Hollande decke lieber blasphemische Mohammed-Karikaturen als "die zentrale Figur einer schwachen und diskriminierten Gruppe"; damit meint Todd den Propheten und die Muslime.

Fast überall Widerspruch

Mit seinen Thesen findet sich Todd über Nacht wieder auf allen Pariser Titelseiten und Medienkanälen. Und fast überall stößt er auf Widerspruch: Die "Charlie"-Umzüge - insgesamt die größten Demos in der Geschichte Frankreichs - seien nicht "hysterisch" gewesen, sondern ruhig verlaufen, heißt es vielenorts. Psychoanalytikerin Julia Kristeva billigt dem streitbaren Soziologen zu, dass er nicht nur die Banlieue-Jugendlichen verteidige, sondern auch vor wachsendem Antisemitismus warne.

Todd schreibt in seinem Essay, der "zweite" Anschlag - jener vom 9. Jänner auf den jüdischen Supermarkt - sei eigentlich gravierender als das "Charlie-Habdo"-Attentat zwei Tage zuvor gewesen. Auf den Terroraspekt wollte Todd Montag auch nach dem Anschlag in Texas nicht groß eingehen. Er wirft der Solidaritätswelle vielmehr vor, Millionen hätten sich von einigen "Gestörten" ins Bockshorn jagen lassen.

Dank Todd holt das attentatsversehrte Frankreich immerhin eine Debatte nach, die andernorts längst geführt wird. In den USA protestieren über 200 Schriftsteller aus aller Welt gegen die geplante Verleihung des PEN-Preises an "Charlie Hebdo". Sie werfen dem Pariser Blatt "kulturelle Intoleranz" vor. Wie sehr die Attentate nachwirken, zeigt auch die in vieler - auch finanzieller - Hinsicht gespaltene "Charlie"-Redaktion. Der am 7. Jänner verletzte Hauptzeichner Renald Luzier ("Luz") gab bekannt, dass er müde sei, Mohammed zu karikieren. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 5.5.2015)