Ein Warhol-2.0-Szenario: Chris Haring bittet zum Nahkampf.

Foto: Michael Loizenbauer

Wien – Im zeitgenössischen Tanz kommen ganz verschiedene Arten von Sprache ins Spiel. Das können Sprachen von Körpern, Bildern und Licht genauso sein wie die von Klängen oder Worten. Mit diesem Spiel fordern sich der Wiener Choreograf Chris Haring und seine Gruppe Liquid Loft seit zehn Jahren konsequent heraus. Auch jetzt wieder in ihrer neuen Arbeit False Colored Eyes, die gerade im Burgtheater-Kasino als Kooperation mit dem Impulstanz-Festival uraufgeführt worden ist.

Vordergründig geht es in diesem zweiten Teil der Liquid-Loft-Serie Imploding Portraits Inevitable um die unterhaltungs- und sozialmediale Verwandlung des Menschseins. Dabei gibt es direkte Bezüge zu Andy Warhols Factory im New York der 1960er. Sechs Tänzerinnen und Tänzer, zwei Kameras plus Projektoren, Soundequipment, zwei Wände und etliche Scheinwerfer bilden die wesentlichen Elemente von Harings Bühnenapparatur. Diese produziert, mit integriertem Wunschprozessor und High-Performance-Tuner, ein Warhol-2.0-Szenario.

Realwirtschaftliche Wunschprozessoren sind Warhol-2.0-Waffen: sich hip und schön fühlen, präsent sein, sich wie ein Superstar bewegen, die Einbildungen des Abbilds für bare Münze nehmen. Dieses süße Gift überträgt Liquid Loft in ein lichtgepolstertes Nahkampfzentrum zwischen dem Körper und seinen liebsten Erweiterungen, den Kameras. Der passende Zauberspruch dazu, "Libenter homines id, quod volunt, credunt" (auf Cäsarisch: Menschen glauben gern das, was sie sich wünschen), kommt nicht von ungefähr aus einem Buch über den Krieg.

Sinnlich und konzis zeigt False Colored Eyes, wie aus Wünschen Attacken werden. Dabei "schießen" alle Tanzsprachen zugleich. Die Tänzer bewegen ihre Lippen zu Texten, die von einem Apparat vorgesagt werden. Die in den sozialen Medien hippe Körpersprache – Daumen rauf, Fingerherzerl, Augenblinkern, Bussimund – wird im Stück durch Tanz ersetzt. Nie kommen die Bilder zur Ruhe, und eine reiche Soundscape rockt die Szene.

Haring bringt seine Tänzer ins Vibrieren und Grimassieren oder lässt sie durch digital aufgeweichte Imitationen von Warhol’schen "Screen Test"-Filmen gleiten. In seiner "Philosophie" schrieb Warhol einen Wunsch auf: "Ich habe als Werbegrafiker mit kommerzieller Kunst angefangen und möchte es zum Business-Künstler bringen." Der Warhol von heute heißt Zuckerberg. Der pfeift auf Kunst, und sein Business wird von Millionen User-Stars erledigt.

Mit den Kräften von Live-Projektion und Mischpult löst Haring die realen Körper auf und haucht ihren Video-Abbbildern Eigenleben ein. Im Gegensatz zu den satten Farben des Vorgängerstücks Shiny. shiny, das die Serie Imploding Portraits Inevitable eingeleitet hat, kommen diese Bilder fahler, gespenstisch daher. Im Dauerfeuer der Kameras werden die Tänzer zur virtuellen Munition, mit der auf die Leinwand geballert wird. Dabei entstehen schöne und beunruhigende Muster. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 2./3.5.2015)