Amir Kassaei, weltweiter Kreativchef von DDB, wuchs in Wien auf und in die Werbung hinein.

Foto: DDB/Elmer van der Marel/Hollandse-Hoogte

Wien - Amir Kassaei kommt zurück nach Österreich - für ein paar Stunden: Am Freitag tritt er beim Branchenkongress "Marketing Rockstars" in Graz auf. Der globale Kreativchef des Agenturnetworks DDB ist seltener Vertreter einer klassischen Agentur bei dem international prominent von Google bis Ben & Jerry's, Deezer bis Jägermeister besetzten Event.

Kassaei (46) ist in Teheran geboren, er flüchtete mit 13 nach Österreich, begann bei Werbelegende Tibor Barci, ging zu Springer & Jacoby, dann DDB, die vielfach ausgezeichnete Agentur, etwa mit McDonald's und Volkswagen. Kassaei ist Präsident des Art Directors Club of Europe. Dem STANDARD beantwortete er vorab Fragen per Mail.

STANDARD: Herr Kassai, darf die Werbe- und Marketingbranche am 8. Mai in Graz mit einer Publikumsbeschimpfung rechnen, wenn sie bei den "Marketing Rockstars" auftreten? Sie erklären den lieben Kollegen ja ganz gerne, dass sie sie als "Truppe von Edelprostituierten" sehen, die sich als Werbe-Dienstleister statt Unternehmensberater auf Augenhöhe verstünden.

Kassaei: Erstens ich habe nie unsere Branche beschimpft. Ich weise seit mittlerweile zehn Jahren lediglich darauf hin, dass wir immer mehr an Bedeutung und damit auch unsere Daseinsberechtigung verlieren, wenn wir uns als Industrie nicht substantiell verändern. Vor zehn Jahren hat man mich als Nestbeschmutzer oder Enfant terrible beschimpft, mittlerweile sehen auch die Letzten ein, dass an dem Einwand und der Schlussfolgerung was daran ist.

STANDARD: Die österreichische Sektion der International Advertising Association spricht von einem "Braindrain" in der Werbung. Mit diesem - auch nicht sehr nett formulierten - Befund beklagt sie den Mangel an Nachwuchs: Wie könnte man denn kluge junge Menschen motivieren, in die Werbung zu gehen?

Kassaei: Ganz einfach: Indem wir uns auf das zurückbesinnen, was unsere Industrie immer schon ausgemacht und aber auch erfolgreich gemacht hat. 1. Unser Produkt ist nicht Werbung. Unser Produkt ist das Kreieren von Relevanz von Produkten, Dienstleistungen und Unternehmen. 2. Unser Business Model sollte sich nicht darum drehen, dass wir für die Stunden bezahlt werden, die wir damit verbringen sinnlose Werbeideen zu produzieren. Sondern darum, dass wir für die Ideen und Innovationen bezahlt werden, die einen Wert schaffen. Einen Wert sowohl im Leben der Menschen, als auch im betriebswirtschaftlichen Ergebnis unserer Auftraggeber. Und last but not least sollten wir Kreativität in unserer Industrie neu definieren und neu bewerten. Die Kreativität, die ich meine, ist das Lösen von Marketingproblemen auf innovative, intelligente und relevante Weise. Wenn wir all das tun und beherzigen, dann gibt es auch keinen Anlass für Braindrain.

STANDARD: Unter den "Rockstars" in Graz findet man Experten für "Branded Content" der "New York Times", kreative "Evangelisten" von Google und Marketingmenschen von Facebook und Instagram, dazu einen "digitalen Propheten" von AOL - und kaum einen Vertreter einer klassischen Werbeagentur. Ist Werbung noch zeitgemäß?

Kassaei: Naja, Wer sich auf seinen Titel beruft, der hat ihn sowieso verwirkt. Ich glaube dass wir als Industrie imstande sind, etwas zu kreieren, das Technologie oder Medienunternehmen nicht können und wahrscheinlich nie können werden. Dazu müssen wir uns wieder auf unsere Berufung und eigentliche DNA fokussieren. Das kann weder Google, noch AOL, noch Facebook, noch Yahoo und wie sie sonst alle noch heissen. Nicht ohne Grund ist das wertvollste Unternehmen der Welt, Apple eigentlich eine vertikal integrierte Werbeagentur, die an der Kreuzung von Humanität, Kreativität und Technologie agiert.

STANDARD: Was ist, was kann zeitgemäße Werbung 2015?

Kassaei: Das Ziel sollte nicht sein, zeitgemäße Werbung zu machen, sondern Relevanz zu kreieren. Die Mittel und Methoden, das zu tun, sind heute andere als vor fünf oder zehn oder 20 Jahren. Aber am Ende ist erfolgreiche, innovative und herausragende Werbung die, die es schafft, Menschen zu begeistern und Werte zu schaffen. Das wird sich auch in den nächsten 50 bis 100 Jahren im Kern nicht verändern.

STANDARD: "Nicht ohne Grund verschieben immer mehr Leute das gesamte Media-Budget in den Bereich Digital", haben Sie unlängst dem Schweizer Branchendienst Persönlich erklärt - und im nächsten Satz gesagt: "Sie wissen zwar nicht, was sie dort machen, aber das ist jetzt der Lauf der Dinge." Wissen Sie, was die Leute mit ihren Budgets in der digitalen Welt machen sollten?

Kassaei: Wir werden in den nächsten 10 bis 15 Jahren in einer komplett vernetzten Welt leben, wo alles mit allem und jedem verbunden sein wird. Das bedeutet, dass es die Unterscheidung zwischen Digital und Analog komplett absurd sein wird - und ist.Warum 99 Prozent aller Marken und Marketer im digitalen Bereich scheitern, hat vor allen Dingen damit zu tun, dass sie die digitale vernetzte Welt als ein Sammelsurium von neuen Medienkanälen sehen statt als Infrastruktur. Solange sich diese falsche Logik nicht korrigiert, sehen sie tradiertes Denken in digitalen Kanälen, aber nichts wirklich Innovatives und Relevantes.

STANDARD: Die schwedische Agentur Forsman & Bodenfors gilt laut Preisbilanz 2014 als weltweit kreativste Agentur - und sie verzichtet nach eigenem Bekunden auf Kreativdirektoren. Wie beurteilt denn der weltweite Kreativchef von DDB die Verzichtbarkeit dieser Funktion? Braucht es diese - soweit ich das sehe - Schlüsselfunktion CD in Werbeagenturen gar nicht?

Kassaei: Da haben Sie offensichltlich nicht aufgepasst. Die kreativste Agentur der Welt nach allen relevanten Rankings, Umfragen und Wettbewerben ist immer noch adam & eve DDB. Und zwar nicht, weil sie auf Kretivdirektoren verzichten. sondern weil sie als eine große Agentur wie ein Startup denken, strukturiert sind und arbeiten. Ich brauche, um ein relevantes Produkt zu kreieren, einen, der alle Ressourcen, alle Spezialisten und alle strategischen und inhaltlichen und technologischen Stränge zusammenhält um ein konsistentes und relevantes Produkt herzustellen. Wie Sie ihn nennen ist mir ziemlich egal, aber die Funktion braucht man.

STANDARD: Eine bekannte und bekannt eigenwillige Kreativdirektorin - Rosa Haider-Merlicek - hat Österreichs größte Agentur gerade im Streit entlassen - und mit ihr ging auch ihr Mann, Werbelegende Franz Merlicek. Wenn man von den persönlichen Auseinandersetzungen absieht - kann man daraus auch eine Tendenz gegen das Eigensinnige, Unbequeme ableiten?

Kassaei: Ich habe 1997 Österreich verlassen und bin zu einer der damals kreativsten Agenturen der Welt gegangen, unter anderem weil ein gewisser Herr Demner mir gesagt hat, dass ich nicht gut genug wäre für seine Agentur. Den Rest der Geschichte kennt man. Ich glaube, wir leben als Branche immer noch von herausragenden und Eigensinnigen und auch unbequemenen Persönlichkeiten. Und da gibt es sicher Reibungen und auch verschiedene Ansichten. Deshalb muss man sich nicht gleich trennen. Aber, wie ich ja schon sagte, von Herrn Demner oder Bergmann abgelehnt zu werden, ist, wie Sie ja an meinem Beispiel sehen eher ein Kompliment.

STANDARD: Demner, Merlicek & Bergmann hat gerade einen heftigen Streit mit dem CCA, weil der eine Red-Button-Lösung für die Cliniclowns, eingereicht in der Kategorie Innovation, als sehr ähnlich einer britischen Idee disqualifiziert hat. Muss man als Werber (und Juror) eigentlich alle Kampagnen und Ideen kennen, die es in der weiten Werbewelt schon einmal gegeben hat?

Kassaei: Nein, muss man nicht. Man muss aber den Anspruch haben, aus den existierenden Dingen in dieser Welt etwas Neues, Innovatives und Ungesehenes zu schaffen. Es gibt nichts originär Neues, sondern es ist immer eine Neuzusammensetzung von altbekannten Dingen. In der Werbung wie in der Musik oder auch in der Kunst. Wie sagte schon Picasso: Good artists copy, great artists steal. Aber man sollte wenigstens so smart sein, sich nicht beim Stehlen erwischen zu lassen.

STANDARD: Hat Ihnen als Juror und Jurypräsident schon jemand mit dem Anwalt gedroht, weil eine eingereichte Arbeit wegen großer Ähnlichkeit mit einer anderen disqualifiziert wurde? Und wenn ja: Wie ging die Sache aus?

Kassaei: Nein. Das gehört auch eher in den Kindergarten und nicht in einen Kreativclub. Da muss man souverän darüber stehen. Aber ich kann mich erinnern, dass der CCA vor zehn Jahren eigens die Regeln des Clubs während der Jurierung ändern musste, damit die DDB Deutschland nicht mit weitem Abstand vor allen anderen alle Veneri gewinnt. Das habe ich damals zur Kenntnis genommen - und wir haben trotzdem alle anderen weit hinter uns gelassen.

STANDARD: Sie haben 2009 einen großen Anlauf genommen, DDB Tribal Wien in Österreich unter die Top 3 zu bringen. Fünf Jahre später hat Fred Koblinger (PKP BBDO) die Agentur übernommen, mit dem sie 2010 noch recht herzhaft öffentlich über Kundenmut und Werbepreise gestritten haben - was ist da mit DDB Wien schief gelaufen?

Kassaei: Wir haben DDB in Wien gestartet, weil wir strategisch, inhaltlich, aber auch strukturell Platz für eine Agentur im österreichischen Markt gesehen haben. Wir haben dann auch innerhalb von zwei bis drei Jahren daraus eine der kreativsten Agenturen Österreichs geschaffen. Das hat ja sogar dazu geführt, dass das Kreativranking extra abgeschafft wurde, damit einige Mitbewerber es nicht auch schwarz auf weiss sehen müssen. Strategisch und inhaltlich jedoch hat sich gezeigt, dass Österreich als Markt zu klein ist für drei etablierte Omnicom-Agenturen. Das ist zwar schade, aber im Sinne der Gesamtstrategie vom Omnicom sehr richtig. Zu Fred Koblinger kann und will ich nichts sagen. Der hat schon genug andere Sorgen.

STANDARD: Den Schweizer Kollegen haben Sie gerade gesagt: Ihr (Werbe-)Markt wäre "viel zu klein, um richtig zu spielen. Ich kenne das aus Österreich." Wie sollte man denn "richtig spielen" - und wie könnte man das im kleinen Österreich?

Kassaei: Ich glaube dass aufgrund der Grösse des Marktes multinationale Networks sich tradionell schwer tun. Da ist eine Konzentration sicher sinnvoller.

STANDARD: Wie wird denn dieser zu kleine Werbe-Markt Österreich in, sagen wir, fünf Jahren aussehen? Die Player, das kreative Niveau - und kann man dann noch ordentlich Geld mit Werbung verdienen?

Kassaei: Klein ist ja fein. Es wird auch in fünf Jahren einen Werbemarkt in Österreich geben, und es wird auch dann genug gute Agenturen geben, die auch ihr gutes Geld verdienen können. Solange sich alle Beteiligten auf Ihre Kernkompetenz und eigentliche Mission besinnen und sich auch dementsprechend neu aufstellen.

STANDARD: Was kostet es eigentlich, einen Armin Kassai für 20 Minuten nach Graz zu holen?

Kassaei: Eine Melange, eine Leberkäs-Semmel und ein bis zwei gute alte Muratti Ambassador.