Wiederholte Migration nach Nordamerika und zurück ist in Nina Bunjevacs "Vaterland" ebenso ein Thema wie fragile Familienbande, jugendliche Comic-Sozialisierung und die Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert.

Foto: Avant-Verlag

Er ist das unbeschriebene Land. Einmal stellt sie seinen Kopf als weißes Puzzle dar. Nina Bunjevac unternimmt mit ihrem neuen Buch eine Vatersuche mithilfe der Gespräche mit ihrer Mutter. Deshalb ist ihre Graphic Novel Vaterland auch ein Porträt dieser Mutter. Aus dem Mund des Comic-Vaters kommen kaum Sprechblasen. Wie auch? Der Vater, ein Nationalist und Terrorist, war bereits tot, als die Tochter vier war. Bunjevac kann also nur seine Briefe an die Mutter zitieren. Dafür lässt sie die anderen, an die sie sich erinnern kann, sprechen. Allen voran die Großmutter. Wenn diese sich an ihre Partisaninnenzeit erinnert, taucht das Jugoslawien der 1970er auf: "Drei Jahre hungern, drei Jahre durch den Schnee marschieren … in Gräben schlafen … damit ihr frei leben und den Frieden genießen könnt, den ihr heute für normal anseht", mahnt die Oma.

Die Familie ist politisch gespalten: Während die Großmutter für Tito gekämpft hat, ist Bunjevacs Vater einer, der im Exil in Kanada die Büste des Tschetnikführers Draža Mihailović in die Wohnung stellt. Mutter Sally selbst hat offenbar keine politische Haltung. Die Tochter erzählt zeichnend eindrücklich die Familiengeschichte, die auch eine Geschichte der wiederholten Migration nach Nordamerika und von Sprachlosigkeit ist. Da ist etwa ihr Großvater, der im Zorn seine Frau den Heuboden hinunterwirft.

Er trinkt, schlägt sie. Ein Baby schreit, in der Mitte der Bildkomposition: der Vater. Die Nabelschnur ist um das Kind gewickelt und führt zu den Bildern. "Es schien, als ob alles, was er je begriffen, gesehen und erfahren hatte, aus Angst und Gewalt entstanden war", schreibt Bunjevac über ihren Vater. Dessen eigener Vater wurde im Ustascha-Konzentrationslager Jasenovac ermordet, die Mutter starb früh an Tuberkulose.

Prädisposition für Gewalt

Nina Bunjevac spricht im Gespräch mit dem STANDARD von einer "Prädisposition für Gewalt" bei ihrem Vater. Radikalisiert wurde er aber im Gefängnis, meint sie. Und das erscheint plausibel. Denn der Vollwaise kommt zunächst als junger Bursch in die Militärschule. Er wird danach verhaftet und eingesperrt, weil er als Anhänger des Reformers und Tito-Kritikers Milovan Đilas Graffiti an eine Wand malt. "Der Staat hat ihn adoptiert, und dann hat er ihn verstoßen. Es war eine doppelte Zurückweisung", sagt die Tochter.

Sie selbst hat immer schon Comics geliebt und Grafikdesign studiert. Ihre Vorbilder sind Art Spiegelman (Maus) und Françoise Mouly. Bunjevac selbst zeichnet in Kreuzschraffur. Ihre Figuren sind breit und rund. Sie mache immer drei Bilder gleichzeitig, die Sätze für die Sprechblasen habe sie bereits im Kopf, erzählt sie. Vorher recherchiert sie monatelang – das Zeichnen passiere dann "intuitiv".

Das Buch umfasst starke Zeitsprünge, die Erzählungen gehen hin und zurück. Wenn es um Geschichte geht, wird Bunjevac aber zuweilen zu vereinfachend. "Fast fünf Jahrhunderte hatten die in die Region einfallenden Mächte ihnen kontinuierlich ihre Sprache, Religion und Kultur aufoktroyiert. Den Eroberten wurde selten erlaubt, ihre eigenen Bräuche zu pflegen oder ihre eigene Sprache und ihr Alphabet zu entwickeln", schreibt sie etwa über die Ursachen der Konflikte auf dem Balkan. Es ist aber schlicht unrichtig, dass im Osmanischen Reich die kyrillische Schrift verboten war, und natürlich wurde Serbokroatisch gesprochen. Interessant ist, dass Bunjevac dieses antiosmanische Ressentiment aufnimmt. Denn das erzählt viel darüber, wie sehr es noch immer als Erklärungsmuster für alles Mögliche herangezogen wird.

Ihr Buch solle wie ein Fotoalbum funktionieren, sagt sie. Tatsächlich wirkt es wie ein gezeichnetes Album über ein Fotoalbum. Die Künstlerin kopiert reale Fotos, die etwa an den Vater nach Kanada geschickt wurden, als würde das Zeichnen dieser Bilder auch die Verbindung verankern. Und Fotos waren wohl auch ein zentrales Kommunikationsmittel in der Familie.

Bereits die Liebe der Eltern entstand durch ein Foto. Der Vater suchte im kanadischen Exil Brieffreunde in Jugoslawien – die Großmutter von Bunjevac schreibt ihm und schickt ihm ein Bild ihrer 15-jährigen Tochter, in das sich Peter Bunjevac verliebt. Von Anschlägen auf Botschaften, von serbischem Nationalismus ist in den Briefen, die die beiden jungen Leute nun austauschen, nichts zu lesen. 1962, als sie 17 ist, fliegt Sally nach Québec und heiratet ihren Peter.

Als Wendepunkt im Leben des Vaters benennt Bunjevac das Treffen mit dem Terroristen und Nationalisten Nikola Kavaja in einem Lager in Oberösterreich im Jahr 1959. Der Vater war da gerade aus der Haft in Jugoslawien entlassen worden und geflüchtet.

Das Trauma ausgenutzt

Er sei auch ein "Opfer der Lebensumstände" geworden, eine tragische Figur, die von Leuten wie Kavaja manipuliert wurde. "Sie haben sein Trauma ausgenutzt", so die Tochter. Kavaja reiste Tito sogar nach Südamerika nach, um diesen zu ermorden. 1979 entführte er ein Flugzeug auf dem Weg von New York nach Chicago, um die Freilassung eines Terroristenfreundes zu erpressen.

1997 wurde Kavaja aus der Haft entlassen und kehrte nach Jugoslawien zurück. Er wollte für die Serben eine militärische Einheit in den Krieg im Kosovo schicken. Auch nach dem Mord an Zoran Djindjić wurde er festgenommen, 2008 starb er. Bunjevac ist anzumerken, wie sehr sie Kavaja verachtet und für die Entwicklung ihres Vaters verantwortlich macht.

Mit der Ideologie ihres Vaters, den Wurzeln des serbischen Nationalismus, der Geschichte der Tschetniks und ihrer verheerenden politischen Auswirkungen bis zum heutigen Tag setzt sich Bunjevac aber kaum auseinander. Sie beschönigt seine Gewaltbereitschaft nicht, aber die politische Analyse der Vorstellungswelt der Nationalisten, der Ziele der Fans von Draža Mihailović, der ein ethnisch reines Großserbien wollte, fehlt völlig.

Als Kind hat Bunjevac auch wenig davon mitbekommen. Sie wusste fast nichts über ihren Vater, bis sie 14 war. "Ich dachte, er ist in einem Auto gestorben", erzählt sie. "Meine Mutter wollte nicht darüber sprechen, und die Großeltern waren Kommunisten. Also habe ich meine Mutter für seinen Tod beschuldigt." Den Vater hat sie das letzte Mal gesehen, als sie zwei Jahre alt war.

1966 formierte sich in Pittsburgh eine Gruppe von serbischen Nationalisten, die Anschläge auf jugoslawische Botschaften in den USA und Kanada durchführten. Sie nannte sich "Freiheit für das serbische Vaterland" (Sopo). Der Vater trifft Kavaja wieder und schließt sich der Gruppe an. Die Mutter beginnt aus Angst vor der jugoslawischen Geheimpolizei Udba, die Tito-Gegner sucht, Kästen vor das Fenster zu stellen. Tatsächlich ermordet die Udba die Gegner des jugoslawischen Regimes, seien es nun nationalistische Serben oder Kroaten – nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. 1975 flüchtet die Mutter mit ihren beiden Töchtern nach Jugoslawien – sie hält die Angst nicht mehr aus, die Trinkerei und die Tiraden ihres Mannes. Sohn Petey bleibt beim Vater.

Bombenanschläge auf Sympathisanten Titos

"Ich würde alles tun, was Du willst, aber ich stecke zu tief in dieser Scheiße und kann da nicht mehr heraus", schreibt der Terrorist seiner Frau. Sie antwortet: "Du könntest es schon, willst es aber nicht! Ich komme nicht zurück." Die Tochter zeichnet in Vaterland 40 Jahre später, wie er deshalb zur Flasche greift. Der Vater kommt mit zwei Komplizen 1977 in einer Garage, wo ein Sprengsatz explodiert, ums Leben. Die Tochter malt die Meldung der Associated Press nach: "Toronto (AP) – Wie die 'Toronto Sun' heute berichtete, kamen am Montag bei einer Garagenexplosion drei Männer ums Leben, die als Mitglieder einer serbischen Terrorgruppe gelten. Sie verübten in sechs oder sieben Städten in Kanada und den Vereinigten Staaten mehrere Bombenanschläge auf Sympathisanten des jugoslawischen Präsidenten Tito und auf jugoslawische Vertretungen."

Man sieht den Schattenriss der Mutter, wie sie im Boden versinkt und in einer anderen Welt wieder auftaucht. Es sind acht Bilder. Das Kind, der Sohn, der in Kanada zurückblieb, gelangt durch jenes Loch zu ihr, durch das sie gerade aus der anderen Welt gefallen ist. Sie will ihn in die Arme nehmen. Aber es bleibt nur ein Vogel im Fenster sitzen. Der Sohn Petey weigerte sich, zur Familie nach Jugoslawien zu kommen.

In Südosteuropa löste Bunjevacs Buch großes Echo aus. Das kroatische Kultusministerium hat 180 Exemplare für Büchereien gekauft. Die Comicszene in Ex-Jugoslawien beschreibt sie selbst als einen Platz von "Brüderlichkeit und Einheit", wo immer gegen Nationalismen Widerstand geleistet wird. (Adelheid Wölfl, Album, DER STANDARD, 2./3.5.2015)