Wien – Für den Grazer Soziologen Max Haller sind sie neben den Studenten die großen Gewinner des Wohlfahrtsstaates: die Pensionisten. "Ihre Bedeutung ist massiv gestiegen sowohl im Hinblick auf Umfang wie materielle Absicherung. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine kaum glaubliche gegenläufige Entwicklung von Lebenserwartung und faktischem Pensionsantrittsalter ereignet", schreibt er in einem aktuellen Beitrag für die Zeitschrift "Soziologie heute". Frei nach dem kürzlich verstorbenen Soziologen Rainer M. Lepsius bezeichnet Haller die Pensionisten gar als "neue Klasse", die entstanden sei.

Ob die neue Klasse bald mit weiteren Pensionsreformen behelligt wird, ist noch alles andere als klar. Rot und Schwarz sind sich, wie so oft, nicht einig. Während die ÖVP bereits Druck macht, sieht Sozialminister Rudolf Hundstorfer (SPÖ) derzeit eher keinen Handlungsbedarf. Vereinbart wurde bis jetzt nur eines: ein Stichtag. Bis zum 29. Februar 2016 will die Regierung prüfen, ob die im Koalitionspakt abgesteckten Ziele auch erreicht werden konnten.

Pensionsautomatik

Für den Pensionsexperten Bernd Marin ist schon jetzt klar: Es wird weitere große Reformen geben müssen. Er nennt die Pensionsautomatik, die vorzeitige Anhebung des Frauenpensionsalters und weitere Einschnitte bei den "Luxuspensionen" als Beispiele (siehe Interview).

Dass für die ältere Generation ein immer größerer Teil des Steuerkuchens aufgewendet wird, lässt sich jedenfalls bereits jetzt an den Budgetzahlen ablesen. Zu Beginn des Jahrtausends musste der Staat nur 4,9 Milliarden Euro zuschießen, um alle Ansprüche aus der gesetzlichen Pensionsversicherung bedienen zu können. 2013 waren es dann schon 9,6 Milliarden, und in vier Jahren werden es voraussichtlich mehr als 13 Milliarden sein. Die Ausgaben wachsen also deutlich schneller als die Wirtschaftsleistung (BIP).

Beamtenpensionen kaum durch Beiträge gedeckt

Die Kosten für die Pensionen der öffentlich Bediensteten sind darin noch gar nicht eingerechnet. Im Jahr 2013 (2014 ist noch nicht endgültig abgerechnet) lagen sie bei fast elf Milliarden Euro. Durch Beiträge der Beamten kommen nur 2,4 Milliarden herein, den Rest steuern Bund und Länder in Form von Arbeitgeberbeiträgen und Steuermitteln bei.

Auch insgesamt ist der heimische Sozialstaat seit 2000 gewachsen. Die Sozialquote (Ausgaben gemessen am BIP) ist von 28,4 Prozent (2000) auf über 30 Prozent im Jahr 2009 gestiegen, in den Folgejahren blieb sie relativ konstant. In Summe fließen mehr als 93 Milliarden Euro in die sozialen Sicherungssysteme.

Spitzenreiter Dänemark

Wobei der österreichische Wert an sich im EU-Vergleich nichts Außergewöhnliches ist. In der Eurozone liegt die durchschnittliche Sozialquote bei 30,4 Prozent, in der gesamten EU bei 29,5 Prozent. Wesentlich günstiger sind die USA oder Japan unterwegs (19 beziehungsweise 23 Prozent des BIP) – wobei natürlich kontinentübergreifende Vergleiche schwierig sind. Zu verschieden sind die Rahmenbedingungen in den Bereichen Migration, Demografie, Wirtschaftswachstum oder private Vorsorge.

Problemfeld Arbeitsmarkt

Neben den steigenden Pensionskosten ist die seit Jahren angespannte Lage am Arbeitsmarkt die größte Herausforderung für den Sozialstaat. Deutlich mehr als 400.000 Menschen suchen derzeit einen Job. Da die Republik beim Wachstum zuletzt hinter den EU-Durchschnitt zurückgefallen ist, scheint eine baldige Trendwende nicht in Sicht. Das Wifo erwartet für 2016 sogar einen weiteren Anstieg der Arbeitslosenquote auf rund 9,5 Prozent.

Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen gibt es aber durchaus Fortschritte bei der Beschäftigung der Generation 55 plus. Ihre Erwerbstätigenquote stieg von 28 Prozent im Jahr 2002 auf zuletzt 45 Prozent. Von den Topländern ist Österreich aber noch immer meilenweit entfernt. In Island arbeiten fast 84 Prozent der über 55-Jährigen, in Schweden 74 Prozent. Aber auch beim Nachbarland Deutschland sind es stolze 65,6 Prozent. Eine weitere Besserung erhofft sich die österreichische Regierung durch den Ausbau von Eingliederungsbeihilfen. Dabei bekommen Arbeitgeber Zuschüsse, wenn sie ältere Mitarbeiter einstellen.

Hohe Arbeitslosigkeit direkt vor Pension

Ulrich Schuh, Ökonom beim wirtschaftsnahen Institut EcoAustria, weist noch auf ein anderes Phänomen hin. Die Arbeitslosigkeit ist, wenn man Teilnehmer von AMS-Schulungen einrechnet, grundsätzlich bei den über 50-Jährigen nicht höher als bei der Gesamtbevölkerung, und sogar etwas niedriger als bei den unter 25-Jährigen.

Allerdings: Unmittelbar vor der Pension schießen die Zahlen nach oben. Bei den 61-jährigen Männern gibt es eine Arbeitslosenrate von 20 Prozent. Ulrich Schuh: "Ich interpretiere das so: Betriebe und Arbeitnehmer genehmigen sich auf Kosten des AMS einen Resturlaub." Er spricht von falschen Anreizen, die das System derzeit biete. "Das ist etwas, wogegen man vorgehen muss." Er schlägt Zu- und Abschläge bei der Arbeitslosenversicherung vor, um die beim AMS entstehenden Kosten abzudecken.

Bonus/Malus liegt auf Eis

Überlegungen in Richtung eines Bonus/Malus-Systems gab und gibt es auch auf Regierungsebene. Aber erstens wurden sie bereits massiv abgeschwächt, und zweitens liegen sie wegen des Widerstands der Wirtschaftskammer vorerst auf Eis.

Was ebenfalls typisch für den heimischen Arbeitsmarkt ist: Die Einkommenskurve geht vor allem bei Angestellten steil nach oben, die Teilzeitquote liegt bereits bei 27,7 Prozent (Platz zwei in der EU). Und: Niedrigqualifizierte kommen immer stärker unter Druck. Bei Menschen, die nur einen Pflichtschulabschluss haben, ist die Arbeitslosenquote laut einer Auswertung von EcoAustria zwischen 2008 und 2014 von 15 auf fast 25 Prozent gestiegen. Mit steigender Bildung sinkt das Risiko, arbeitslos zu werden, dramatisch.

Akademiker kaum arbeitslos

Bei Arbeitskräften mit einem Lehrabschluss liegt die Arbeitslosenquote nur mehr bei 7,5 Prozent, bei Akademikern sind es gar nur 3,5 Prozent.

Zu beobachten ist aber auch ein gewisser Verdrängungswettbewerb unter Zuwanderern. Laut Integrationsfonds sind bereits 26 Prozent der Migranten aus EU-Ländern Akademiker. Die Folge: "Anders als früher verdrängt nicht der vielzitierte anatolische Hilfsarbeiter den teureren Wiener Hilfsarbeiter, sondern zum Beispiel der junge Ungar den schlechter qualifizierten Bosnier", wie es AMS-Chef Johannes Kopf zuletzt im "Profil"-Interview formulierte.

Für Bund und Länder bedeutet die neue Wirtschaftswelt wieder höhere Ausgaben. Die Kosten für die 2010 eingeführte Mindestsicherung sind von 439 Millionen Euro 2011 auf fast 600 Millionen im Jahr 2013 gestiegen. Bereits 238.392 Menschen sind somit auf das letzte Netz im Sozialstaat Österreich angewiesen. (Günther Oswald, Markus Hametner, DER STANDARD, 5.5.2015)