EU-Kommissar Johannes Hahn: "Die EU ist insgesamt ein erfolgreiches Projekt."

Foto: Matthias Cremer

STANDARD: Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs sind 70 Jahre vergangen. Die Nachkriegszeit in Europa war geprägt vom Kalten Krieg, aber auch vom europäischen Integrationsprojekt. Nun sind wir mit neuen Krisenherden konfrontiert. Was ist Ihre Zwischenbilanz?

Hahn: Die EU ist insgesamt ein erfolgreiches Projekt. Es hat in Europa noch nie so lange Frieden gegeben. Das ist sicher durch den Zusammenhalt der EU gewährleistet. Dort, wo die EU ist, ist Friede. Deshalb ist die Europäische Union trotz ihrer oft gescholtenen Soft Power offenkundig sehr attraktiv. Das verstehen wir, und wir versuchen, im Rahmen der Nachbarschafts- und Erweiterungspolitik auf diese Bedürfnisse einzugehen.

STANDARD: Beginnen wir im Süden: Was sollten angesichts von Failed States in Nordafrika, islamistischem Terror und Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer die Eckpunkte europäischer Politik sein?

Hahn: Zunächst ist es wichtig, dass wir uns über unsere eigenen europäischen Interessen im Klaren sind. Wir wollen Frieden, Stabilität und Prosperität in der Nachbarschaft, denn wenn es unseren Nachbarn gut geht, dann geht es auch uns gut. Was die Flüchtlingstragödie betrifft, so darf man nicht vergessen, dass sich in den südlichen Nachbarländern etwa 16 Millionen Flüchtlinge aufhalten. Syrien hat 23 Millionen Einwohner, davon sind 10 Millionen auf der Flucht. Oder nehmen Sie die Situation in Libyen, wo die meisten Flüchtlingsboote wegfahren: Das Land ist in Anarchie versunken und daher Ziel von Menschenschmugglern. Es ist wichtig, dort eine Stabilisierung der staatlichen Autoritäten herbeizuführen. Ein nächster Schritt wäre intraregionale Zusammenarbeit. Die europäische Gründungsidee, durch wirtschaftliche Kooperation Interessenslagen zu schaffen, die bewaffnete Konflikte ausschließen, diese Idee unter Wahrung der jeweiligen kulturellen und religiösen Spezifika in die Region zu übertragen, ist ein Ziel unserer Politik.

STANDARD: Blicken wir in die Ukraine: Hat die EU hier Fehler gemacht? Und was sind nun die Strategien zur Lösung der Krise?

Hahn: Hinterher ist man immer klüger. Nur wenn man nichts tut, kann man keine Fehler machen, doch das Nichtstun an sich ist schon der größte Fehler. Wir haben gelernt, dass wir unseren Nachbarn klar machen müssen, dass sie ihre politischen Möglichkeiten nicht überdehnen dürfen. Es gilt, einen behutsamen Weg der Entwicklung zu gehen. Dabei geht es auch um interne gesellschaftliche Entwicklungen. Länder ambitioniert, zielgerichtet aber auch behutsam an Europa heranzuführen, das ist die Botschaft, die wir gelernt und verstanden haben.

STANDARD: Sie sind auch für die Erweiterung der EU zuständig. Wie ist angesichts der aktuellen Krisen die Stimmung in der Kommission, was die Aufnahme neuer Mitglieder betrifft?

Hahn: Es gibt eine eindeutige Aussage von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, der zufolge es in dieser Periode keine Erweiterung gibt. Das hat zu gewissen Irritationen geführt, ist aber eigentlich nur die technische Beschreibung eines realen Zustands. Auf dem Balkan etwa gibt es mittlerweile praktisch in allen Kandidatenländern eine gute Gesetzgebung zum Kampf gegen Korruption. Aber es geht ja nicht nur darum, Gesetze zu beschließen, sie müssen auch nachhaltig umgesetzt werden. Das dauert seine Zeit. Vergangene Woche konnten wir in Brüssel alle Premierminister des Westbalkans versammeln. Es ist dort gelungen, eine Vereinbarung über die Einbettung der Verkehrsverbindungen dieser Länder in die transeuropäischen Netze zu erzielen. Dies überbrückt nicht nur Distanzen, sondern auch unterschiedliche Positionen und trägt damit zur Konfliktbewältigung bei.

STANDARD: Wie ist allgemein die Situation nach der Aufnahme Kroatiens in den anderen Ländern des ehemaligen Jugoslawien? Kann Jahre nach dem Krieg der Nationalitätenkonflikt etwa für die Aufnahme Serbiens künftig noch ein Hindernis sein?

Hahn: Natürlich ist die Situation immer noch fragil. Aber sie konsolidiert sich mehr und mehr, und wir kommen jetzt in eine Periode, wo Versöhnung möglich scheint. Unser Ansatz ist es, durch konkrete Projekte diese Versöhnung zu unterstützen und sie nicht zu einer theoretischen Konferenzübung werden zu lassen. Dabei geht es um Projekte in den Bereichen Verkehr oder Energieversorgung. Auch bei Forschung oder universitärer Ausbildung ist grenzüberschreitende Zusammenarbeit sinnvoll und kann einen Beitrag zur Versöhnung leisten.

STANDARD: Anlässlich des 100. Jahrestags der Massaker an den Armeniern und der Verwendung des Begriffes Völkermord gab es zuletzt Konflikte zwischen der Türkei und EU-Staaten wie Österreich und Deutschland. Was bedeutet das hinsichtlich des Kandidatenstatus der Türkei?

Hahn: Die doch sehr harschen Reaktionen Ankaras sind auch vor dem Hintergrund der Wahlen im Juni zu sehen. In Teilen des Landes und bei bestimmten Teilen der Bevölkerung mag das durchaus populär sein. Was mir aber Sorgen bereitet, sind die Langzeitfolgen. Es wird damit die Saat einer antieuropäischen und antiwestlichen Haltung gesät, was aus heutiger Sicht einen künftigen Beitritt sehr schwierig macht.

STANDARD: Es gibt nicht nur die langfristige Perspektive der Erweiterung, sondern auch das Szenario, dass die EU kleiner werden könnte. In Großbritannien, wo bald gewählt wird, gibt es Diskussionen über ein Austrittsreferendum. Was würde ein Austritt Großbritanniens für die EU bedeuten?

Hahn: Ich denke, das ist die wirkliche Herausforderung für uns Europäerinnen und Europäer: Welches Maß an Integration brauchen wir, um global bestehen zu können? Das sind die Diskussionen, die wir zu führen haben. Wir müssen ein starkes Interesse daran haben, in einer zunehmend multipolaren Welt solide und tragfähig aufgestellt zu sein, auch mit dem entsprechenden politischen Gewicht. Insofern sind Diskussionen wie in Großbritannien zwar auf den ersten Blick irritierend, aber ich glaube, sie helfen uns nachzuschärfen, wo es notwendig ist.

STANDARD: Zum soliden und tragfähigen Aufstellen der EU gehört es auch, die Bevölkerung so gut wie möglich mitzunehmen. Viele Menschen nehmen die EU angesichts der aktuellen Krisen aber mehr als Teil des Problems wahr statt als Teil der Lösung. Was können die europäischen Institutionen und die Politiker der Mitgliedsstaaten tun, um hier gegenzusteuern?

Hahn: Bei der Wahrheit bleiben. Dort, wo die EU verantwortlich ist, dort stehen wir auch zu unserer Verantwortung. Aber Europa ist nicht der Sündenbock, auf dem man alles abladen kann. Insofern sollten sich alle, die im öffentlichen Sektor tätig sind, darüber im Klaren sein, dass wir alle Europäerinnen und Europäer sind. Auch, um nur ein Beispiel zu nennen, der Bürgermeister oder die Bürgermeisterin. Europäer oder Europäerin zu sein ist nichts, was man an der Garderobe abgibt. (Gerald Schubert, DER STANDARD, 30.4.2015)