Berlin - Etwa jeder dritte Mensch ist in Ländern wie Deutschland oder Österreich kurzsichtig - Tendenz steigend. Die sogenannte Myopie nimmt in vielen Staaten Europas, Amerikas und besonders stark in Südostasien geradezu epidemische Züge an. Viel im Freien verbrachte Zeit schützt offenbar. Darauf wiesen jetzt die deutschen Fachgesellschaften für Endokrinologie und Augenheilkunde hin.

Kurzsichtigkeit und Ausbildungsstand

Bei der Myopie ist in der Regel der Augapfel zu lang und damit die Entfernung der Hornhaut und Linse von der Netzhaut größer als normal. Warum bei einigen Menschen Kurzsichtigkeit entsteht und bei anderen nicht, ist seit vielen Jahren Thema der Forschung. "Immer wieder werden Erbfaktoren genannt; Zwillingsstudien deuten darauf hin", wurde Helmut Schatz, Mediensprecher der Deutschen Gesellschaft für Endokrinologie am Mittwoch in einer Aussendung zitiert. "Dies kann aber nicht der einzige Grund sein", fügte er hinzu und verwies auf eine bereits 1969 veröffentlichte Studie, in der Inuit im Norden Alaskas untersucht wurden. Bei den noch in isolierten Gemeinschaften aufgewachsenen Erwachsenen waren nur zwei von 131 kurzsichtig. Bei ihren Kindern und Enkeln mit verändertem Lebensstil waren hingegen bereits mehr als die Hälfte betroffen. "So schnell kann sich das Erbgut kaum verändert haben", betonte Schatz.

Viele Studien einschließlich der einer vor kurzem erschienenen "Gutenbergstudie" aus Mainz haben gezeigt, dass Kurzsichtigkeit eng mit dem Ausbildungsstand verknüpft ist. Ausbildung beinhaltet mehr Lesen und mehr Aufenthalt in geschlossenen Räumen. Obwohl die meisten epidemiologischen Studien einen Zusammenhang zwischen Kurzsichtigkeit und "Naharbeit" gefunden haben, ist nach Meinung von Frank Schaeffel vom Forschungsinstitut für Augenheilkunde an der Universitätsklinik Tübingen immer noch schwer zu fassen, was genau beim Lesen die Kurzsichtigkeit auslöst.

10.000 Lux für drei Stunden täglich

Eine besondere Rolle nimmt offenbar hingegen der Faktor Tageslicht ein. "Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass der Aufenthalt im Freien bei Kindern der Kurzsichtigkeit entgegenwirkt - vermutlich wegen der besseren Lichtverhältnisse", erklärte der Experte von der Deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft (DOG). In Innenräumen werden meist nicht mehr als 500 Lux erreicht, an sonnigen Tagen im Freien dagegen selbst im Schatten etwa 10.000 Lux, wie der Wissenschaftsjournalist Elie Dolgin unter Berufung auf australische Forschungsergebnisse im Wissenschaftsjournal "Nature" vor kurzem schrieb. Demnach schätzt Morgan, dass Kurzsichtigkeit bei Kindern verhindert werden kann, wenn sie täglich etwa drei Stunden lang mindestens 10.000 Lux ausgesetzt sind.

Im Tiermodell konnte ein Zusammenhang von Licht mit Dopamin gezeigt werden. Versuche an Küken, die eine Injektion ins Auge mit dem Dopamin-Hemmstoff Spiperone erhielten, hob bei ihnen den schützenden Effekt des Lichts wieder auf. "Diese Erkenntnisse sind nicht nur ein Meilenstein für die Myopie-Forschung, sie zeigen auch die Bedeutung der Endokrinologie als interdisziplinäre Wissenschaft", sagte Schatz. Für die beiden Experten ist die Konsequenz aus diesen Forschungsergebnissen klar: "Kinder sollten so viel wie möglich im Freien spielen."

Im Fernen Osten ist es in den vergangenen Jahrzehnten zu einem extremen Anstieg der Fälle von Kurzsichtigkeit gekommen. Laut "Nature" waren vor rund 60 Jahren zehn bis 20 Prozent der Chinesen kurzsichtig. Derzeit wird bei Teenagern und jungen Erwachsenen dort bereits ein Anteil von bis zu 90 Prozent registriert. In Seoul in Südkorea sind gar 96,5 Prozent der 19-Jährigen von Myopie betroffen. (APA, 29.4.2015)