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Das französische Institut für Gesundheit und medizinische Forschung (Inserm) bringt erstmals etwas Licht in das schwarze Loch: In diesem Frühjahr veröffentlichte es eine Studie über den direkten Bezug zwischen Arbeitslosigkeit und Selbstmord.

Foto: AP/Inserm

3,5 Millionen Menschen suchen in Frankreich Arbeit. Diese neue Rekordzahl - noch nie waren in Frankreich mehr Menschen ohne Arbeit - wurde diese Woche in Paris bekannt, nachdem die Arbeitslosigkeit im März um 0,4 Prozent im Vergleich zum Vormonat gestiegen war. In Frankreich sind damit 10,6 Prozent der Erwerbstätigen arbeitslos, mehr als doppelt so viele wie in Österreich oder Deutschland. Präsident François Hollande hatte im Wahlkampf 2012 versprochen, die Arbeitslosigkeit prioritär zu bekämpfen. Allein seit seiner Wahl wurden aber 600.000 Franzosen arbeitslos.

Der Psychiater Michel Debout, Gerichtsmediziner an einem Krankenhaus in Saint-Etienne, erinnert nun in einem Buch (Der Traumatismus der Arbeitslosigkeit) daran, welche menschlichen Dramen hinter Rekordarbeitslosigkeit stecken. Und wie dieser Umstand verdrängt wird. "Die Gesundheit der arbeitslosen Personen und die Auswirkungen der Joblosigkeit auf die Gesundheit bilden ein schwarzes Loch", schreibt er. So erfasse das französische Statistikamt Insee alle möglichen Aspekte der Arbeitslosigkeit - außer die gesundheitlichen.

Belastender Jobverlust

Debout beschreibt aus seiner klinischen Erfahrung präzis, wie belastend Jobverlust ist. Eine Entlassung wecke "ein Gefühl des Zusammenbruchs, ja des Sterbens". Es folge ein Gefühl der Erniedrigung, gefolgt von posttraumatischen Symptomen wie Appetitverlust, Schlafmangel, Reizbarkeit, Depressionen. Rachegefühle stellten sich ein, "vor allem, wenn das Unternehmen weiter große Gewinne macht." Das fördere Schuldgefühle, die oft nur durch Alkohol oder Psychomittel gemildert würden. Alleinstehende isolierten sich noch mehr, Familien und Kinder litten psychisch wie finanziell: Mehr als ein Viertel jener Menschen, die das Überschuldungsverfahren des Sozialrechts in Anspruch nehmen, sind ohne Arbeit.

Das französische Institut für Gesundheit und medizinische Forschung (Inserm) bringt nun erstmals etwas Licht in das von Debout benannte schwarze Loch: In diesem Frühjahr veröffentlichte es eine Studie über den direkten Bezug zwischen Arbeitslosigkeit und Selbstmord. In französischen Regionen, in denen die Zahl der Arbeitslosen nach dem Krisenjahr 2008 stark gestiegen war, nahm die allgemeine Suizidrate ebenfalls um 2,6 Prozent zu. Von 2008 bis 2010 begingen in ganz Frankreich 584 Franzosen Selbstmord, weil sie zuvor ihren Job verloren hatten, eruierte Inserm nach Überprüfung eines jeden Falles. Aufgrund von zehnjährigen Feldstudien an mehreren tausend älteren Arbeitslosen kommt Inserm ferner zum Schluss, dass die Arbeitslosigkeit in Frankreich indirekt - via Alkohol, Drogen, Tabak - am Tod von 10.000 bis 20.000 Menschen pro Jahr mit schuld ist.

Gesundheitliche Konsequenzen

Michel Debout fordert die Regierung deshalb auf zu erkennen, dass die Arbeitslosigkeit nicht nur ein ökonomisches, soziales und finanzielles, sondern auch ein gesundheitliches Problem ist. Würde er sich damit durchsetzen, hätte das gewaltige Konsequenzen. Erstens hieße es, dass herkömmliche Lösungsansätze für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu kurz griffen: Liberale Ökonomen hätten nur die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit vor Augen und nähmen soziale Folgekosten aus, meint Debout; und die Gewerkschaften gehen seiner Meinung nach zu wenig auf die spezifischen Bedürfnisse der Arbeitslosen ein.

Debout schwebt ein System vor, in dem jeder Bürger einen "Gesellschaftsvertrag" eingeht, der mit dem Berufseinstieg beginnt und bis zum Tod dauert. Arbeitet der Erwerbsfähige, gilt der normale Arbeitsvertrag; vor- und nachher greift dieser Gesellschaftsvertrag, mit Geltung für die Zeit der Ausbildung, Weiterbildung und Pension. Oder eben auch während der Arbeitslosigkeit: Während dieser Zeit erhalte der Betroffene Schutz von der Allgemeinheit; zugleich werde er aber auch für gemeinnützige Arbeiten eingesetzt.

Das sei auch mit Kosten verbunden, räumt der Mediziner ein; diese seien aber unter dem Strich sicher tiefer als die einer Arbeitslosenversicherung, die auch die gesundheitlichen Schäden einbeziehe. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 29.4.2015)