So, die ersten 70 Jahre hätten wir einigermaßen erfolgreich absolviert, was mach' ma jetzt? Österreich ist nach Luxemburg das zweitreichste Land in der EU, aber im Moment zeigen wir deutliche wirtschaftliche Schwächen: Bei fast allen anderen zieht die Konjunktur wieder an, wir haben das dritte Jahr mit Nullwachstum. Zugleich Rekordarbeitslosigkeit, Rekordstaatsverschuldung, Rekord an Steuern und Abgaben.

Weitere große Problemfelder: die sozialen Veränderungen und Konfliktpotenziale durch eine merkbare Migration und ihre Folgen; die Frage der Verteilungsgerechtigkeit - nämlich weniger zwischen "G' stopften" und den elenden Massen, sondern zwischen großen, privilegierten Schichten, die sich bequem im staatsnahen Sektor eingerichtet haben, und denen, die dem internationalen Wettbewerb nahezu ungeschützt ausgesetzt sind. Schließlich der Verlust an Wettbewerbsfähigkeit, hauptsächlich durch ein ineffizientes Bildungssystem und eine gewisse Missachtung der produzierenden Wirtschaft.

Die Migrationsproblematik lässt sich so zusammenfassen: Österreich ist ein Einwanderungsland, und das ist auch großteils gut so, aber bisher ist das mehr oder weniger passiert und verlangt dringend nach einem gestalterischen Element (auch für die, die schon da sind). Überspitzt formuliert: Wir haben nicht mühsam in den letzten Jahrzehnten gegen hausgemachte reaktionäre Kräfte das Land liberalisiert, die Frauen emanzipiert, die Geschlechterrollen neu definiert, mehr oder weniger Toleranz durchgesetzt und der Religion an sich einen angemessenen, weil weniger dominanten Platz zugewiesen, damit jetzt über die Hintertür wieder Rückständigkeit, patriarchale Verhältnisse und der Allmachtsanspruch einer Religion einen sehr beträchtlichen Teil unserer Gesellschaft besetzen.

Anders formuliert: Ja, unsere Großmütter und Urgroßmütter haben noch Kopftücher getragen, aber deswegen ist es keine gute soziokulturelle Entwicklung, wenn heute immer mehr Volksschulmädchen Kopftücher tragen.

Hier die Balance zwischen den Ansprüchen einer modernen Gesellschaft und den notwendigen Rücksichten auf religiöse Rechte zu finden wird ziemlich schwierig werden.

Mindestens so schwierig wie die allmähliche Herstellung einer neuen sozialen Balance. Den oberen Mittelstand härter zu besteuern, um Privilegienbiotope etwa im staatsnahen Sektor weiter alimentieren zu können, ist keine zukunftsorientierte Politik - und sät außerdem Unfrieden. Wenn ein Teil der Gesellschaft bei der geringsten beabsichtigten Veränderung schreit "Dann gibt's Krieg!", wird dem anderen Teil, der unter Arbeitsplatzdruck steht, bald die Geduld ausgehen.

Dem gilt es klug vorzubeugen. Das riesige Thema "Verlust der Wettbewerbsfähigkeit" ist hier nicht im Einzelnen abzuhandeln. Internationale Rankings sind nicht die Evangelien, aber sie zeigen eine Tendenz.

Ob das jetzige politische System die Wende schaffen kann? Warum nicht. Es ist zwar erstarrt, aber nicht völlig dysfunktional. Noch nicht. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 29.4.2015)