Der Republikgründer war eine sehr österreichische Figur. Ein Sozialdemokrat, aber eher rechts, deutschnational grundiert (er stammte aus Mähren), intellektuell, rhetorisch brillant, aber voll von heute schwer erträglichem Pathos, ein Beschöniger und Verdränger, aber von politischer Entschlusskraft, als es darauf ankam. Anpassungsfähig bis knapp an die Grenze, aber immer mit der Agenda: Wiederherstellung eines selbstständigen demokratischen Österreich. Ein jovialer Biedermann, trickreich und verschlagen. Aber letztlich ein Patriot und Demokrat.

Karl Renner hatte vor diesem 27. April 1945 in seinem langen politischen Leben schon viele Wendungen vollzogen, bis hin zu einer halb freiwilligen Anerkennung des "Anschlusses" - ein Überlebenskünstler. In der entscheidenden Stunde war er mehr: Von Stalin und den Westmächten zugleich akzeptiert zu werden, das Ziel aber nicht aus den Augen zu verlieren, das war ein, wenn man will, sehr österreichisches Kunststück.

Wir können uns in manchem in dieser sehr altmodisch wirkenden Figur aus einer fernen Zeit selbst erkennen. Er war kein "großer Mann", kein Ehrfurchtsobjekt, aber seine Kunst des schlauen Durchwurstelns hat in einer entscheidenden Situation funktioniert. Man soll das nicht geringschätzen, aber auch nicht zu einer österreichischen Philosophie überhöhen. Wir haben es ganz gut gemacht in diesen 70 Jahren, aber wir hatten auch Glück. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 28.4.2015)