Über den Wiener Kongress diskutierten am Sonntag im Wiener Burgtheater Johannes Hahn, Sebastian Kurz, Alexandra Föderl-Schmid, Heinrich August Winkler, Hazel Rosenstrauch und Adam Krzeminski (von links nach rechts)

Foto: Matthias Cremer

Johannes Hahn: "Mit politischen Partnern muss man behutsam umgehen. Das Letzte, was man machen soll, ist ein Diktat."

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Sebastian Kurz: "Es ist politisch und wirtschaftlich ein Mehrwert, Ort internationaler Verhandlungen zu sein."

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Heinrich August Winkler: "Im Sinne ihrer Glaubwürdigkeit muss sich die EU auch ihrem inneren Wertekatalog verpflichtet fühlen."

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Hazel Rosenstrauch: "Frauen schufen beim Wiener Kongress Räume für eine Kultur der Konversation abseits des Verhandlungstisches."

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Adam Krzeminski: "Aus polnischer Perspektive ist der Wiener Kongress eher ein faules Ei als eine Erlösung Europas."

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Wien - Dass Ereignisse der Vergangenheit nicht als Blaupausen für Prozesse der Gegenwart herhalten können, darüber herrschte unter den Diskutanten auf der Bühne des Wiener Burgtheaters am Sonntagvormittag Einigkeit. Dennoch gilt der Wiener Kongress, der sich nach der Niederlage von Napoleon Bonaparte in den seit 1792 geführten Koalitionskriegen um eine Neuordnung Europas bemühte und am 9. Juni 1815 mit der feierlichen Unterzeichnung der Schlussakte zu Ende ging, in einigen Punkten als wegweisend für die moderne Diplomatie - und als Inspiration beim Nachdenken über aktuelle Formen der Krisenbewältigung.

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Zur Diskussion "Der Wiener Kongress und die Folgen" hatten das Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), die Erste Stiftung und das Burgtheater in Kooperation mit dem STANDARD geladen. Für den renommierten deutschen Historiker Heinrich August Winkler ist die "Schonung der Besiegten als Gebot der politischen Klugheit" ein zentraler Aspekt des Wiener Kongresses, der auch in der heutigen Fachwelt breite Anerkennung findet: "Die Diplomaten des Wiener Kongresses wollten ein Gleichgewicht der politischen Kräfte schaffen und auch dem besiegten Frankreich wieder die Rückkehr in das Mächtekonzert erlauben." Der Preis der Friedensstiftung sei dennoch hoch gewesen, meint Winkler: "Es war auch das Werk der Restauration, das in Wien besiegelt wurde. Das bedeutete die Unterdrückung liberaler und demokratischer Bestrebungen."

"Faules Ei"

Dafür, dass der Geist des Wiener Kongresses letztlich doch weit entfernt ist von dem, der heute dem europäischen Integrationsprozess zugrunde liegt, spricht auch eine Reihe anderer Argumente. "Aus polnischer Perspektive ist der Wiener Kongress eher ein faules Ei als eine Erlösung Europas", sagte der Warschauer Publizist Adam Krzeminski. Drei Wegelagerer, nämlich Preußen, Österreich und Russland, hätten zuvor das Gleichgewicht Europas zerschlagen und sich dann beim Wiener Kongress als Schiedsrichter aufgespielt: "Die Vorstellung, dass die Großmächte allein über die Belange der europäischen Staaten entscheiden können, hat sich als falsch erwiesen. Die Bescherung war dann hundert Jahre später der Erste Weltkrieg."

Für die Kulturwissenschafterin Hazel Rosenstrauch ist es aus heutiger Sicht besonders interessant, dass zur Zeit des Wiener Kongresses eine alte Welt am Zerbrechen und die neue noch nicht richtig greifbar war: "Das betrifft auch Sitten, Gebräuche, die Art, wie man miteinander umgeht." Nach Revolution und Kriegen wollten führende Staatenvertreter die alte Welt wiederherstellen; wirklich gelungen sei dies jedoch nicht: "Der Rahmen war der alte, doch im Untergrund passierte auch sehr viel Neues". So hätten etwa auch Frauen eine wichtige Rolle gespielt im Machtkonzert der dominanten Männer: "Sie schufen Räume, in denen man abseits des Verhandlungstisches eine Kultur der Konversation pflegen konnte, ohne gleich die großen Entscheidungen fällen zu müssen."

Den Versuch, am Verhandlungstisch zu einem Interessenausgleich zu finden, sowie den diplomatischen Multilateralismus, der in der globalisierten Welt von heute Voraussetzung für die meisten Entscheidungsfindungen ist, sieht Außenminister Sebastian Kurz bereits im Wiener Kongress zugrunde gelegt.

Auch die Rolle Wiens als nach wie vor wichtiger Standort für internationale Verhandlungen sei zum Teil dem Kongress vor 200 Jahren zu verdanken. Dem Urteil, dass die Prinzipien und die Dynamik politischer Verhandlungen seither völlig anders geworden sind, schließt Kurz sich aber an: "Das Modell, dass politische Repräsentanten weitgehend abseits von Bevölkerung und Medien ihre Beschlüsse ausverhandeln, wäre in der heutigen Welt undenkbar", sagte Kurz und verwies auf die wachsende Bedeutung zivilgesellschaftlicher Einrichtungen der Gegenwart.

Für Österreichs EU-Kommissar Johannes Hahn - verantwortlich für Nachbarschaftspolitik und Erweiterung - ist ein Vermächtnis des Wiener Kongresses der behutsame Umgang mit den Partnern: "Das Letzte, was man nach einem bewaffneten Konflikt machen darf, ist ein Diktat", so Hahn. "Es muss eine Verhandlungslösung geben, die jedem die Möglichkeit eröffnet weiterzuleben."

Aktuelle Konflikte

Die Teilnehmer der Debatte, die von STANDARD-Chefredakteurin Alexandra Föderl-Schmid moderiert wurde, stellten auch konkrete Bezüge zu aktuellen politischen Konflikten her und zu den Problemen, vor denen der europäische Integrationsprozess gegenwärtig steht: "Die wirkliche Herausforderung ist unsere interne Neuordnung. Wir müssen die Frage beantworten, wie wir uns eigentlich aufstellen wollen", meint Hahn. So gebe es in der Europäischen Union zwei unterschiedliche Gesellschaftsmodelle: Einige Staaten würden auf niedrigere Steuern setzen und dafür die Bezahlung vieler Leistungen den Bürgerinnen und Bürgern überlassen, andere wiederum stünden in der Tradition höherer Steuersätze, aber auch höherer finanzieller Leistungsbereitschaft staatlicher Strukturen, erklärt Hahn: "Hier zu einer Vereinheitlichung zu gelangen ist durchaus schwierig, die Steuerpolitik ist ja auch ein Spiegel der jeweiligen politischen Kultur."

Zur Sprache kamen auch der Konflikt in der Ostukraine und die Strategie der Europäischen Union gegenüber der Politik von Russlands Präsident Wladimir Putin. Die Wirtschaftssanktionen der EU, so der Historiker Winkler, seien der Ausdruck dessen, dass eine militärische Reaktion auf die Annexion der Krim vor mehr als einem Jahr keine Option war. Außenminister Kurz sagte, es sei richtig und wichtig gewesen, dass es in dieser Frage Einigkeit unter den EU-Staaten gab.

Der Plan Putins, meinte Adam Krzeminski, sei weniger der Ausbau des russischen Einflusses in der Ukraine, sondern das Zurückdrehen der mitteleuropäischen Revolution des Jahres 1989 und ein Wertekrieg gegen den Westen. Dabei sei die Revolution von 1989 historisch nicht weniger relevant als die Franzöische Revolution 200 Jahre zuvor; und die russische des Jahres 1917. Sie sei sogar ein Korrektiv der beiden, zumal sie ohne Guillotine und Exekutionskommandos zu einem gewaltlosen Machtwechsel führte. (Gerald Schubert, DER STANDARD, 27.4.2015)