Das Kennzeichen einer funktionierenden Demokratie liegt nicht etwa darin, dass das Volk bei allem und jedem gefragt wird - das kann das System sogar nachhaltig lähmen. Was für die Demokratie allerdings wichtig ist, dass das Volk eine Regierung abwählen kann. Das kann man in Österreich aber nicht. In 70 Jahren der Zweiten Republik stellte die ÖVP 31 Jahre lang den Kanzler, die SPÖ die restliche Zeit - und nur 25 Jahre lang waren die beiden einstigen Großparteien nicht gemeinsam in der Bundesregierung. Mehr noch: Gab es ausnahmsweise keine "große" Koalition, wurde landauf, landab gejammert, dass der bewährte Konsens in Gefahr sei.

Dabei waren jene Jahre, in denen eine der heutigen Koalitionsparteien in Opposition war, weitaus prägender für Österreich als jene der rot-schwarzen oder schwarz-roten Blockade. Und spannender war es allemal, wenn Regierung und Opposition jeweils einen klaren Kurs segeln konnten.

Es ist daher verständlich, dass sich viele von einem mehrheitsfördernden Wahlsystem eine erfrischende Wirkung für die Demokratie erwarten. Modelle dafür gibt es viele - auch solche, die kleinen Parteien ab einer bestimmten Größe ihr parlamentarisches Überleben sichern. Oder sogar solche, die der größten Partei selbst bei einer absoluten Stimmenmehrheit eine (kleine) Koalition aufzwingen. Hauptsache ist, dass der Bürger diese Regierungen bei der nächsten Wahl wieder loswerden kann. (Conrad Seidl, DER STANDARD, 27.4.2015)