Auf dieser von einem US-Piloten gemachten historischen Luftaufnahme von 1945 ist eine Kolonne jüdischer Gefangener aus Graz auf dem Todesmarsch ins KZ Mauthausen zu sehen.

Foto: Possert/ Luftbilddatenbank Dr. Carls

Graz – Ein dunkles Kapitel in der Geschichte der steirischen Landeshauptstadt, das jahrzehntelang verschwiegen und erst in den vergangenen Jahren historisch aufgearbeitet wurde, gibt nach wie vor ungelöste Rätsel auf: Es ist nicht auszuschließen, dass im ehemaligen NS-Lager im Wohnbezirk Liebenau womöglich nach wie vor in verfüllten Bombentrichtern und Gruben hunderte jüdische Opfer verscharrt sind. Es ist denkbar, dass auch das Areal eines städtischen Kindergartens betroffen ist.

Seit mehr als einem Jahr drängt der im Bezirk ordinierende Arzt Rainer Possert gemeinsam mit dem Sozialmedizinischen Zentrum Liebenau offizielle Stellen der Stadt, diese historische Last ein für alle Mal aufzuklären. Die Historikerin Barbara Stelzl-Marx hatte 2013 erstmals das NS-Lager Liebenau dokumentiert. Historisch gesichert ist, dass auch 7.000 bis 8.000 ungarische Juden am Ende des Krieges 1945 von Ungarn kommend in Graz haltgemacht hatten, ehe sie in Todesmärschen nach Mauthausen getrieben wurden.

Viele von ihnen starben in Graz an Erschöpfung, Unterernährung, Krankheit, viele wurden massakriert, erschossen und vor Ort verscharrt. Rund 60 Leichen wurden nach dem Krieg exhumiert.

Private Recherchen

Possert hat, sensibilisiert durch zahlreiche Schilderungen von Patienten und Bewohnern des Viertels, weitere private Recherchen unternommen, um den Vermutungen nachzugehen, dass noch immer in alten Bombentrichtern menschliche Überreste liegen könnten.

Vor wenigen Monaten hat der Arzt auch ein hochspezialisiertes Vermessungsbüro engagiert, das altes Bildmaterial neu berechnete. "Jetzt liegen aktuelle, bis auf den Meter genaue Messungen vor", sagt Possert. Durch die neuen Karten seien die ehemaligen Bombentrichter und Gruben genauestens lokalisierbar. Zudem lägen jetzt neue Bilder von US-Flugaufklärern aus dem Jahr 1945 vor, auf denen Marschkolonnen von Gefangenen zu sehen sind. Possert: "Mir geht es einfach darum, ob hier noch Menschen vergraben sind oder nicht. Damit auch die Bewohner Gewissheit haben."

Einen ersten Hinweis in diese Richtung hatte es rund um den Kindergarten des Viertels gegeben. Hier seien, sagt Possert, bei Aushubarbeiten Knochen gefunden, das Areal sei aber sofort zubetoniert worden. Der Bauakt, der dies dokumentieren sollte, ist verschwunden. Das bestätigt die für die Baubehörde zuständige KPÖ-Stadträtin Elke Kahr: "Wir haben hundertmal im Amt angerufen und uns die Akte durchgesehen: Der Teil ist nicht mehr vorhanden. Ich will und kann aber nicht unterstellen, dass jemand den Akt bewusst verschwinden hat lassen. Wir wissen es einfach nicht."

Stadt plädiert für Gedenkort

Zwar will Kahr so wie Possert und mittlerweile auch die Stadtregierung, dass hier ein Gedenkort eingerichtet wird – ansonsten aber geht sie auf Distanz zu dem engagierten Mediziner. Denn auch wenn es Hinweise gebe, dass noch Opfer verscharrt wären: "Wir können jetzt doch nicht alles umgraben." Das Areal betreffe auch Wohnungen von bedürftigen Menschen, "die sonst kein Zuhause haben". Auch der Wunsch, das fragliche Areal quasi unter Denkmalsschutz zu stellen, sei nicht realisierbar. Dann nämlich dürfe kein Häuslbauer mehr etwas an seinem Haus oder Garten verändern, wendet Kahr ein.

Possert will seinen Teil der Recherchen am Dienstag öffentlich machen: bei der von der Stadt Graz aus Anlass der 70-Jahr-Wiederkehr besagter NS-Verbrechen mitorganisierten wissenschaftlichen Konferenz "Das Lager Liebenau: Zwangsarbeiter – Totenmärsche – Erinnerung". (Walter Müller, DER STANDARD, 27.4.2015)