Auch Österreich hat eine Unabhängigkeitserklärung - nur ist sie, anders als in anderen Ländern, hierzulande fast unbekannt.

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"Die wichtigste Botschaft spiegelt sich in den Unterschriften wider. Die neue Staatsführung war breit aufgestellt", schreibt Doron Rabinovici über die Unabhängigkeitserklärung.

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Diese Unabhängigkeitserklärung ist weitgehend unbekannt. Sie wird im eigenen Land kaum gelehrt oder zitiert. In anderen Staaten - ob in den Niederlanden, in Israel oder gar in den USA - kennt jedes Schulkind das Manifest nationaler Souveränität. Dort gilt es als Quelle eigener Selbstbestimmung.

In Österreich hingegen ist es beinah so, als sei der Text unter Verschluss geraten. Die Historikerin Heidemarie Uhl wies mich darauf hin: Auf Hrdlickas Denkmal gegen Krieg und Faschismus wurden nur Teile aus der damaligen Regierungserklärung und nicht die eigentliche Proklamation in den Stein gemeißelt, doch in vielen Beschreibungen des Monuments wird dennoch behauptet, es sei die Unabhängigkeitserklärung da wiedergegeben. Der Irrtum belegt, wie fremd die Verkündung der Eigenstaatlichkeit in Österreich letztlich blieb.

War es Karl Renner, der die Sätze voller Pathos formulierte? Renner hatte am 1. April 1945 den Kontakt zu den sowjetischen Truppen gesucht. Am 13. April war Wien durch die Rote Armee befreit worden.

Schon 1943 einigten sich die Alliierten in Moskau auf das Ziel, Österreich solle wieder erstehen, ohne als Nachfolgestaat des sogenannten Dritten Reichs zu gelten. Am 27. April 1945, in Teilen des Landes wurde weiterhin gekämpft, und die Wehrmacht hatte noch nicht kapituliert, trafen Vertreter der SPÖ, der ÖVP und der KPÖ gemeinsam mit drei Unabhängigen zusammen. Sie veröffentlichten die Unabhängigkeitserklärung - gemeinsam mit der Kundmachung über die Einsetzung der provisorischen Regierung und mit der ersten Regierungserklärung.

Die Präambel der Proklamation verkündet das Selbstverständnis, das von nun an gelten sollte. Vom sogenannten Anschluss Österreichs, wie die Annexion hier ganz ohne Anführungszeichen genannt wird, ist gleich zu Beginn die Rede. Die Eingliederung ins Deutsche Reich sei völkerrechtswidrig gewesen, sei indes auch "durch den hochverräterischen Terror einer nazifaschistischen Minderheit eingeleitet, einer wehrlosen Staatsführung" abgeluchst worden. Die Minister Edmund Glaise-Horstenau und Arthur Seyß-Inquart, die im österreichischen Kabinett für Hitler agiert hatten, sind wohlweislich nicht erwähnt.

Viele Klagen ...

Das - wie geschrieben steht - hilflose österreichische Volk sei zu allem Übel nur gezwungen worden. Aufgezählt wird die Entführung des österreichischen Goldschatzes nach Berlin, die Einverleibung der bodenständigen Unternehmen und der heimischen Kunstwerke durch das Deutsche Reich. Beklagt wird, dass Wien, die "vielhundertjährige Residenzstadt" zu einer Provinzstadt degradiert worden sei, und was sich beinah so anhört, als sei die Doppelmonarchie erst mit dem Einmarsch der Wehrmacht untergegangen, ist auch Ausdruck einer allgemeinen Enttäuschung, die selbst in manchem österreichischen Nazi aufgestiegen war. So hatte sich kaum einer seinen Traum von Großdeutschland vorgestellt: Die Piefkes hatten unter dem Braunauer das Sagen!

Die Regierung Hitlers habe "das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs" in einen Krieg gehetzt, den, so der Text, kein Österreicher gewollt habe, denn kein "wahrer Österreicher" habe je Hass gegen andere Völker gehegt. Ganz Österreich, will uns die Proklamation glauben machen, ist nichts als ein Hort der Völkerliebe. Nichts findet sich im Text vom Massenmord an den Juden und an den Roma. Kein Wort von den anderen Naziverbrechen. Die Lüge, Österreich sei nichts als ein Opfer Hitlers gewesen, konnte nur aufrechterhalten werden, wenn von österreichischer Mitschuld nicht die Rede war. Aus diesem Grund blieb wohl der kleine, aber umso heldenhaftere Widerstand unerwähnt.

... und Leerstellen

Ausgeblendet wurde, wie viele hochrangige Naziverbrecher Österreicher gewesen waren. Vergessen gemacht werden sollte, mit welchem Jubel die Wehrmacht im März 38 begrüßt worden war, und vielleicht klingt uns die Sprache der Präambel auch deshalb so hohl, weil mit ihr übertönt werden sollte, wie selbst Karl Renner, der Erstunterzeichner der Deklaration, den sogenannten Anschluss "freudigen Herzens" begrüßt hatte, doch ebenso, was für ein unverdrossener Antisemit Leopold Kunschak war - noch nach 1945. Unüberhörbar wurde mit der Zeit, was die Proklamation nicht anspricht. So ist es heute eher die Kritik an ihr, die sie bekanntmacht.

Die eigentliche Unabhängigkeitserklärung ohne Präambel umfasst nur fünf Punkte. Die Wiederherstellung der Republik, wobei nur von der Verfassung aus dem Jahre 1920 die Rede war und nicht von der Novelle des Jahres 1929; die Einsetzung der Provisorischen Regierung; die Entbindung von allen Eiden gegenüber Hitler und letztlich die Aufforderung zur Staatstreue.

Die wichtigste Botschaft spiegelte sich in den Unterschriften wider. Die neue Staatsführung war breit aufgestellt. Die Sozialisten, die Christlichsozialen und die Kommunisten arbeiteten zusammen. Niemand erhielt die Vormacht. Die Kundmachung des Kabinetts und die Regierungserklärung knüpften hier an. Dezidiert wurde zugesichert, jedes Staatsamt werde, wenn es unter Führung des Staatssekretärs einer Partei stehe, "von Unterstaatssekretären der anderen Richtung mitverwaltet". Die Angst vor Bürgerkrieg und Austrofaschismus ging wieder um, und niemand sollte die Rückkehr der alten Kämpfe befürchten. Was hier - noch in den letzten Kriegstagen - bereits angelegt war, nannte sich später Sozialpartnerschaft. Ihr erstes Projekt hieß Österreich. Doron Rabinovici, DER STANDARD, 25.4.2015)