Armenien, ein Land der schicksalshaften Verstrickungen: Harutyun Chatschatryans "Return of the Poet" ist eine Hommage auf den Poeten Ashugh Jivani.

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Der armenische Regisseur Harutyun Chatschatryan.

Foto: Kamalzadeh

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STANDARD: Hundert Jahre nach dem Genozid an den Armeniern ist die Situation in Hinblick auf die Türkei festgefahrener denn je. Mit Erdogan scheint es noch schlimmer geworden zu sein. Man wertet jede Anerkennung als Verrat. Wie betrachten Sie diese Stagnation?

Chatschatryan: Erdogan ist ein Nationalist, ein Neofaschist, der der Wahrheit nicht ins Auge blicken möchte. Nicht einmal bei seinen eigenen Leuten schafft er das: Bei den Protesten im Gezi-Park hat er Gewalt gegenüber den eigenen Landsleuten ausgeübt. Allerdings habe ich viele Freunde in der Türkei, die gegen die Regierung sind. Die Türken haben Sensibilität dafür, was in ihrem Land nicht stimmt. Vor fünf, sechs Jahren haben wir eine armenisch-türkische Plattform gegründet, auf der wir Filme produzieren, die das Verhältnis dieser Völker thematisieren. Vor zehn Jahren hätte sich das niemand vorstellen können.

STANDARD: Sie haben Hoffnung, dass diese kulturellen Aufbrüche Früchte tragen?

Chatschatryan: Die Welt verändert sich, aber Politiker wie Erdogan und Putin greifen auf steinalte Vorstellungen zurück. Man kann die Wahrheit nicht verstecken. Erdogan ist wie ein Rennpferd, das davongaloppiert und nicht sieht, was links und rechts passiert.

STANDARD: Der armenisch-kanadische Regisseur Atom Egoyan schrieb unlängst in einem Kommentar, dass die Zeit die Wunden nicht geheilt hätte. Gleichzeitig würden die Überlebenden immer weniger. Was bedeutet das für die Erinnerung des Genozids?

Chatschatryan: Das ändert in meinen Augen nicht so viel, weil die Erinnerung dieser Menschen, ihre Texte, ihr Schaffen ja bleiben. Der Genozid ist durch die Erzählungen der Großeltern in den Köpfen der Enkel lebendig geblieben. Sie können nicht vergessen, auch wenn die türkischen Nationalisten immer darauf gesetzt haben, dass die Erinnerung verblassen wird. Erst jetzt, hundert Jahre danach, hat man den Eindruck, dass auch die Welt langsam versteht, was geschehen ist. Es geht gar nicht mehr so sehr darum, was Erdogan denkt. Wenn die Welt den Genozid anerkennt, dann wird auch die Türkei folgen müssen.

STANDARD: Sie haben nie direkt einen Film über den Genozid gedreht, dennoch ist er in ihren Filmen sehr präsent. "Return to the Promised Land" zeigt, wie eine Familie nach dem Erdbeben von 1988 ihr Leben neu beginnt.

Chatschatryan: Unsere ganze Geschichte bleibt mit dem Genozid verbunden. Return to the Promised Land bezieht sich auch auf das Pogrom gegen Armenier in Sumgait 1988. Dieses steht natürlich mit den Ereignissen von 1915 in Verbindung. Return of the Poet handelt von einer weiteren Grenze, die durch das türkisch-russische Abkommen entstand. In Border erzähle ich wiederum von Armeniern, die wegen Grenzziehungen nicht zurück in ihre Häuser können. Die Grenzen, die türkische und aserbaidschanische Politiker gezogen haben, sind künstlich. Das ist ein großes Problem.

STANDARD: Etliche Ihrer Filme kommen ohne Dialog aus, Das verleiht ihnen eine bildliche, geradezu archaische Kraft. Wie hat sich diese Bildsprache entwickelt?

Chatschatryan: Ich versuche zu beobachten und dabei die Natur nicht zu beeinträchtigen. Man muss sich auf das konzentrieren, was in der Szene gerade passiert. Ich versuche zu übersetzen, was ich sehe und empfinde, was zu meinem Land, meiner Kultur gehört. Meine Filme sind nicht an Drehbücher gebunden. Dialoge sind für mich grundsätzlich nicht Teil der Sprache des Kinos. Ich benütze sie nur, wenn es sich um ein Geständnis handelt. Wie man diese Atmosphäre erzeugt, kann ich nicht erklären – es ist etwas, was man spüren muss. Manchmal kommt sie aus langen Einstellungen, manchmal aus Details. Es gibt keine Regel. Aber Filme, die diese Atmosphäre haben, altern nicht.

STANDARD: "The Last Station" funktioniert ein wenig anders: Sie erzählen auf ironische Weise von einem armenischen Schauspielerpaar, das im Westen nicht von seiner Identität ablassen kann.

Chatschatryan: The Last Station war einer der ersten Filme, die sich mit den Armeniern im Ausland beschäftigt haben. Ich entwarf den Film, als würde man das Paar mit den Augen der Ausländer, etwa der Franzosen, betrachten. Armenier, die im Ausland geboren wurden, verstehen oft nicht genau, womit Armenien solche Probleme hat. Die Beziehung zwischen denen, die es zu einer anderen Identität gebracht haben, und denen daheim ist von leichtem Sarkasmus geprägt. Ich habe einen Freund, der Millionär ist, und immer, wenn er nach einem luxuriösen Essen aus seinem teuren Auto steigt, pflegt er zu sagen: "Oh, unsere Sorgen werden uns nie verlassen!"

STANDARD: In "Dokumentarist" geht es um den Akt des Drehens selbst. Ein eher unsympathischer Regisseur greift hier bisweilen in die Wirklichkeit ein. Was hat diese Kritik am Medium bewirkt?

Chatschatryan: Ich wollte einen Film darüber machen, was Dokumentieren eigentlich bedeutet: Wo liegen die Grenzen der Darstellung? Wie weit kann man gehen, wie tief graben? In gewisser Weise wollte ich das Dokumentieren anklagen. Jeder Regisseur vermag, nur für das Wohl seines Films, alle Linien zu durchbrechen. Ich übe hier in gewisser Weise Selbstkritik. Man bringt die Leben seiner Protagonisten stets durcheinander. Die Bettler konnten, nachdem sie mit uns gedreht hatten, nicht mehr betteln. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 25.4.2015)