Als Wien eine von Alliierten befreite und geteilte Stadt war, hatten meine Großmütter gerade den Weltkrieg in Russland überlebt, meine Mutter war noch nicht geboren. Mein Vater ein kleiner Junge, der sein Mittagsbrot mit den Kriegsgefangenen, deren Lager er auf dem Schulweg passierte, teilte.

Zwei Monate bevor ich geboren wurde, trat Kreisky mit der ersten SPÖ-Alleinregierung an. Für unsere Familie - die zu diesem Zeitpunkt weder von Kreisky noch von der SPÖ den leisesten Schimmer besaß - war das in näherer Zukunft von dringlicher Wichtigkeit. Sieben Jahre später führten Wege vieler Kontingentflüchtlinge über Österreich als Transitland. Das neutrale Österreich wurde Brücke, Drehscheibe, Vermittler, was viel Fingerspitzengefühl abverlangte. "Dropouts" - Auswanderer aus der UdSSR, die statt nach Israel in andere westliche Länder ausreisen wollten - sorgten für Konflikte. Kreisky sprach sich nachdrücklich für eine freie Wahl aus.

Für uns war das entscheidend, denn die Niederlassung in Wien war weder geplant, noch von den Hilfsorganisationen gern gesehen, von meinem Vater, der sich in Alt-Wien verliebt hatte, der sich scheute, europäische Vergangenheit und Kunstgeschichte hinter sich zu lassen, jedoch sehnlichst erwünscht. Das persönliche Erbe von 1945 war für uns ein ermöglichtes Wurzelschlagen - die Zinsen das anschließende Willkommenheißen. (Julya Rabinowich, DER STANDARD, 25.4.2015)