"Bilder sind immer auch Teile von kollektiver Erinnerung", sagt Petra Gerschner. Mit der Serie "Gezi gegen Gentrifizierung" hat die deutsche Fotokünstlerin zwar die Beobachter, den Kontext und die Folgen rund um den Taksim-Platz dargestellt, nicht aber die Unruhen selbst.

Foto: Petra Gerschner \ architekturbild 2015
Foto: Petra Gerschner \ architekturbild 2015
Foto: Petra Gerschner \ architekturbild 2015
Foto: Petra Gerschner \ architekturbild 2015

Feuer, Rauch und Tränengas. Man hört das Foto förmlich schreien. Im Fitnesscenter des Marmara-Hotels stehen, mit Fotoapparat und Entsetzen dicht an die Glasfassade gebannt, Hotelbesucher und starren hinab auf den Taksim-Platz. Was sie sehen, das sieht man nicht, aber was sie sehen, das weiß man. Die deutsche Fotokünstlerin Petra Gerschner hat die Bilder der Unruhen, die weltweit Wellen schlugen, mit ihrer Kleinbildkamera festgehalten. Gestern, Freitag, wurde sie für ihre vierteilige Serie Gezi gegen Gentrifizierung in Frankfurt am Main mit dem Europäischen Architekturfotografiepreis ausgezeichnet.

"Ich war damals, im Juni 2013, gerade in der Osttürkei, in der kurdischen Stadt Wan, als ich in der Hotellobby die Bilder von den Gezi-Unruhen im Fernsehen gesehen habe", erinnert sich Gerschner im Gespräch mit dem STANDARD. "Hunderttausende kämpften damals gegen die Enteignung des öffentlichen Raums und gegen die Immobilienprojekte Recep Tayyip Erdogans. Kurz darauf bin ich nach Istanbul geflogen. Ich konnte gar nicht anders."

Im Gegensatz zu den Bildern, die in den Medien wochen- und monatelang zu sehen waren, ist der Blick Gerschners kein direkter, sondern vielmehr ein Abbild des Abbilds. "Ich verfolge mit meinen Fotografien keine vordergründige Reproduktion der Ereignisse", sagt die 1960 in München geborene Künstlerin, "sondern wollte vielmehr darstellen, wie die Proteste medial transportiert und wie sie bei den Nachbarn, Beobachtern und Protestierenden emotional wahrgenommen wurden. Über diesen Kontext nämlich war in den Nachrichten und Tageszeitungen nichts zu erfahren."

Was hat das alles mit Architekturfotografie zu tun? Sehr viel, meint Gerschner. "Architektur ist die gebaute Welt, in der wir uns bewegen. Und wenn der türkische Ministerpräsident im Istanbuler Tarlabasi-Viertel die dort ansässigen Sinti, Roma und Kurden vertreiben will, indem er es gentrifiziert und dort spekulative Bürobauten und Shoppingcenter errichtet, dann ist das ein ganz grundlegender Angriff auf die sozialen Strukturen der Marginalisierten, aber auch auf die Stadt, auf die Architektur, die uns allen gehört."

Genau dieser kritische, nicht immer nur schöne Blick ist der Antriebsmotor des Europäischen Architekturfotografiepreises, der seit 1995 alle zwei Jahre verliehen wird. Der vom Verein Architekturbild und vom Deutschen Architekturmuseum (DAM) ausgelobte Preis ist "eine Ergänzung zur klassischen Architekturfotografie, die das Bauwerk im besten Licht darstellt, die die Umgebung ignoriert und die meist auch die Menschen ausblendet", erklärt Vereinsvorsitzende Simone Hübener. "Wir wollen mit unserem Preis die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Gebauten fördern."

Vor allem das heuer ausgeschriebene Thema Nachbarschaft, eine intellektuelle Fundgrube an Interpretationen, sei gut angenommen worden. Insgesamt gab es mehr als 260 Einreichungen aus 14 Ländern. Die 28 besten, die von einer Jury ausgewählt wurden, darunter auch der mit 4000 Euro dotierte Hauptpreis, sind nun in Form einer Buchpublikation sowie im Rahmen einer Ausstellung im DAM zu sehen.

"Der Protest ist ein essenzieller Bestandteil jeder Gesellschaft", sagt Petra Gerschner, die mit ihrer Arbeit Gezi gegen Gentrifizierung die Nachbarschaft als einen sozialen, nicht zuletzt politischen Zusammenhalt dargestellt hat. "Weder der Acht-Stunden-Arbeitstag noch das Frauenwahlrecht noch das Recht auf Bildung und gesundheitliche Versorgung hätten sich ohne Protest durchgesetzt. Noch nie in der Geschichte wurde dem Menschen die Demokratie geschenkt. Immer hat er sie sich erst erkämpfen müssen."

Gezi gegen Gentrifizierung ist ein Aufruf zur Reflexion. Gerschner: "Bilder sind immer auch Teile von kollektiver Erinnerung. Wenn sie öffentlich werden, tragen sie dazu bei, das Ereignis zu stützen und den damit erreichten gesellschaftlichen Wandel zu dokumentieren." (Wojciech Czaja, Album, DER STANDARD, 25./26.4.2015)