Mit einem Gepolter standen die Pferde schnaubend in der Küche. "Stellen Sie sich vor, die Russen kamen direkt in die Küche geritten. Wir versteckten uns unter dem Tisch und haben gezittert vor lauter Angst. Aber auch die Russen haben sich gefürchtet, hat man uns später erzählt. Nachdem, was unsere Leut’ in Russland gemacht haben, mussten sie ja denken, wir sind Barbaren. Germanski, Germanski haben sie immer wieder gerufen. Sie haben nach SSlern gesucht", erinnert sich Georg Steiner und blättert gedankenverloren im vergilbten Fotoalbum.

Im Haus Nummer 10, einer bis heute erhaltenen kleinen Wochenendvilla, verhandelte Karl Renner mit dem sowjetischen Oberkommando erste Details der neuen Republik.
Foto: Plankenauer

Es liegt stets griffbereit in der Küche seines Hauses an der Hauptstraße in Hochwolkersdorf. Steiner war damals, 1945, noch ein Kind, der Vater an der Front, die Mutter allein mit den Kindern. Die Vorhut der russischen Truppen hatte in den späten Märztagen 1945 im stillen, in der ausladenden Hügellandschaft des südlichen Niederösterreich gelegenen Örtchen Hochwolkersdorf ihr Hauptquartier aufgeschlagen. Im Haus Nr. 10, der Wochenendvilla einer Wiener Familie.

Das Dorf war menschenleer, die Bevölkerung panisch vor Angst in die Wälder geflüchtet und wagte sich erst nach und nach wieder in ihre Häuser. Als plötzlich die Nachricht wie ein Lauffeuer durch den Ort ging: "Der Renner ist da und ein paar ganz hohe Russen." Was genau geschah, wusste niemand, das Areal rund um die Villa wurde sofort abgesperrt.

"Marionette" Renner

Karl Renner, der spätere Bundespräsident, lebte damals zurückgezogen im nahen Gloggnitz - wo heute ein Renner-Museum steht - und nahm vor Ort Kontakt mit der sowjetischen Kommandantur auf, die ihn ins nächstgelegene Kommando nach Köttlach schickte. Dort erinnerte sich ein Soldat, dass Josef Stalin "diesen Sozialdemokraten Renner" schon gesucht hatte. Er wollte Renner für den Wiederaufbau Österreichs.

Tage später bereitete sich der spätere Bundespräsident auf Schloss Eichbüchl, das nicht weit von Hochwolkersdorf entfernt ist, intensiv auf die Regierungsbildung vor.
Foto: Plankenauer

Renner war 75, belastet durch seine Zustimmung zum Anschluss, eine vermeintliche Marionette also für eine "Volksfrontregierung". Renner wurde im abgedunkelten Jeep ins Hauptkommando Hochwolkersdorf gebracht. Im Haus Nr. 10 wird er freundlich vom russischen Oberkommandierenden, Generaloberst Aleksej Zeltov, empfangen. Renner bietet an, bei der Bildung einer Regierung mitzuwirken.

Renner legt Stalin rein

"Noch am Nachmittag geht ein Telegramm von Hochwolkersdorf nach Moskau, und innerhalb von wenigen Stunden kommt ein Telegramm von Stalin zurück: volle Unterstützung für Renner. Es soll ihm Vertrauen entgegengebracht werden. Stalin weiß zu dem Zeitpunkt natürlich noch nicht, dass er von Renner reingelegt wird. Er hatte alles, nur keine Volksfrontregierung im Sinn", sagt Johann Hagenhofer, der pensionierte Geschichtsprofessor aus Hochwolkersdorf.

Hauptmann Dr. Markus Reisner, Ausstellungsleiter Mag. Stefan Zehetner, Historiker Dr. Johann Hagenhofer bei der Vorbereitung der Ausstellung 1945 - Menschen im Krieg im Gemeindeamt Hochwolkersdorf.
Foto: Plankenauer

Der Historiker kennt hier jeden Winkel in der Buckligen Welt, geografisch und geschichtlich. Durch seine Initiative wurde 1981 ein kleines Zeitgeschichtemuseum, "Gedenkraum 1945", im Gemeindeamt eingerichtet. Vis-à-vis steht das - heute privat genutzte - Haus Nr. 10, das durch eine gläserne Luke in den Gedenkraum hereinschaut.

Geburtsort der Republik

SPÖ-Bürgermeisterin Waltraud Gruber, die im ersten Stock amtiert, führt nachdenklich durchs Museum: "Das Interesse hat leider nachgelassen. Früher waren sogar viele Berufsschulen da, aber jetzt..., naja". Dabei sei die historische Bedeutung der Gemeinde offenkundig, sagt Hagenhofer: "Der erste Akt der Republiksgründung hat hier stattgefunden. Wir sind der Geburtsort der 2. Republik. Natürlich war auch Köttlach wichtig, hier sprach Renner erstmals vor, und auch Schloss Eichbüchl, wo sich Renner dann intensiv auf die Regierungsbildung vorbereitete, aber am 4. April ist das Entscheidende hier passiert." An jenem Tag herrschte ringsum übrigens noch Krieg. Mehr als 8.000 Juden wurden noch Anfang April von Graz aus in einen Todesmarsch Richtung Mauthausen getrieben.

Gedenktafel beim Schloss Eichbuechl bei Katzelsdorf bei Wr. Neustadt, zeitweiliger Aufenthaltsort von Dr. Karl Renner waehrend der Verhandlungen mit den Sowjets
Foto: Plankenauer

Mit den Sowjets in Hochwolkersdorf verhandelten in diesen Tagen auch die Widerständler um Carl Szokoll, der später zum Film ging und beratend bei Franz Antels Bockerer mitwirkte. Sie konnten unter anderem eine Bombardierung der Hochquellleitung nach Wien verhindern.

Jüdische Tragödie

Hochwolkersdorf hat nicht nur die Geburtsgeschichte der 2. Republik zu erzählen, hier ist an zwei verwandten Familien auch die ganze jüdische Tragödie ablesbar – Familien, die seit ewig in Hochwolkersdorf lebten. Die Winklers führten einen Gemischtwarenladen und eine Trafik.

Die Hochwolkersdorfer ließen wie damals üblich anschreiben. Man traf sich im Wirtshaus und auf dem Feld. Dann marschierte Hitler ein. Und am selben Tag brüllte eine kleine Gruppe quer über die Straße: "Juden raus." Am nächsten Tag ging im Dorf eine unheimliche Wandlung vor sich. Bewohner zogen Naziuniformen an, stahlen sämtliche Schuldscheine, plünderten die Geschäfte.

Das Museum "Gedenkraum 1945" im Gemeindeamt Hochwolkersdorf
Foto: Plankenauer

Es waren Schulfreunde, einer von ihnen war "Tag und Nacht bei uns, er hat alles bekommen von meinem seligen Vater. Und er war zum Schluss einer der großen Anführer", erinnert sich Kurt Winkler im Buch "Eine bucklige Welt - Krieg und Verfolgung im Land der tausend Hügel" von Hagenhofer und Gert Dressel.

"Sie waren plötzlich weg, es war, als ob sie nie da gewesen wären. Alle Spuren der Winklers sind ausgelöscht", sagt Hagenhofer, der gemeinsam mit Bürgermeisterin Gruber dieses Stück Geschichte nun doch dokumentierte. Dort, wo sich das Winkler-Kaufhaus befand, steht heute eine kleine, aber unübersehbare Gedenktafel. Nicht alle im Ort sind davon begeistert. (Walter Müller, DER STANDARD, 25.4.2015)