Grimmige Bestandsaufnahe des postkommunistischen Russland: In Sergej Loznitsas Spielfilmdebüt "Mein Gück" verliert sich ein Lkw-Fahrer (Viktor Nemets, li.) im Hinterland neben der Transitroute.

Foto: Crossing Europe

Der ukrainische Regisseur Sergej Loznitsa.

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Linz - Es waren stets Plätze, die in den revolutionären Bewegungen der jüngeren Vergangenheit zu deren pulsierendem Zentrum wurden. Der Maidan Nesaleschnosti war einer der bekanntesten darunter, er galt bald als Synonym des ukrainischen Aufstands.

Sergej Loznitsas Film Maidan zeigt, wie sich die Menschen an diesem strategischen Ort in Kiew verteilten, wie der Raum zur Arena wuchs und damit auch zum Motor einer wachsenden Gemeinschaft, schließlich zum Feld einer harsch geführten Auseinandersetzung wurde. 2014, als er erstmals in Cannes präsentiert wurde, galt er als Film der Stunde. Aus heutiger Sicht wird deutlich, dass Loznitsa das Geschichtliche dieser Abläufe schon mitbedacht hat.

Ein Ergebnis, das nicht zuletzt aus der Distanz resultiert, die der Film zum wuseligen Geschehen auf dem Platz einnimmt. Die Kamera verharrt an Übersicht gewährenden Stellen, erforscht Nähe wie Tiefe des Raums und damit die Selbstorganisation dieses "Ameisenhaufens", wie es der Regisseur selbst einmal nannte. Keine Partizipation, die sich über Wackelbilder ausdrückt, daher auch kein überbetonter Affekt. Nur einmal muss das Team seine Position verlassen, da es durch Wasserwerfereinsatz selbst in Not zu geraten droht. In den graduellen Verschiebungen dieser Wochen und Monate - Loznitsa filmte von Dezember 2013 bis Februar 2014 - lässt sich mitvollziehen, wie sich aus der Gegnerschaft zu Wiktor Janukowitsch auch ein anderes Verständnis von Nation herausschält.

Für den 1964 in Weißrussland geborenen Filmemacher, dem beim Linzer Crossing Europe Festival erstmals in Österreich ein umfangreiches Tribute gewidmet ist, bedeutete Maidan ein neuerlicher Durchbruch. Dabei hat Loznitsa gewissermaßen schon zwei Arbeitsphasen hinter sich, mit denen dieser Film in Verbindung steht. In Kiew aufgewachsen, in der Filmhochschule in Moskau ausgebildet, realisierte er eine Reihe von Dokumentarfilmen in einem Studio in St. Petersburg, ehe er mit Mein Glück (Stschastje mojo) seinen ersten Spielfilm drehte, mit dem er im Wettbewerb von Cannes landete.

Vielgestaltig ist der Bezug zur sowjetischen Geschichte, der sich durch sein ganzes Schaffen zieht. Mehrere Filme Loznitsas arbeiten auf ungewöhnliche Weise mit Archivmaterial. Blokada (2006) etwa ist zur Gänze aus unveröffentlichten, vermutlich zensurierten Bildern der Belagerung Leningrads im Zweiten Weltkrieg gefertigt. Ohne Kommentar oder erklärende Zwischentitel vertraut der Film dem historischen Rang, dem Gewicht seines Materials - stärkt es jedoch um ein neu angefertigtes Sounddesign, das die stummen Bilder mit gespenstischem Nachleben versieht. Wenn die Bewohner mit auf Schlitten liegenden Toten durch die Straßen ziehen (oder an den Erfrorenen achtlos vorübergehen) und man die leisen Schritte dazu hört, erzählt das vom paradoxen Nebeneinander von Tod und Leben.

Rigide komponiert

Die Achtsamkeit für das, was Bilder an Wirkkraft mit sich bringen, wie für die rigide Komposition derselben kennzeichnet auch seine selbst gedrehten Arbeiten. Die 30-minütige Miniatur Artel (2006) führt zu Fischern ans Weiße Meer, wo Loznitsa die Anstrengung, eine offenbar ellenlange Eisdecke durchzubrechen, aus leicht distanzierter Position, dafür in voller Länge betrachtet. In Polustanok (The Train Stop, 2000) filmt er hingegen wartende Menschen in einem Bahnhof als schlafendes Volk, das von den Geräuschen der Station mysteriöserweise unbehelligt bleibt.

Diesem Prinzip einer zurückgefahrenen Parteinahme bei gesuchter Nähe zu den Protagonisten bleiben auch Loznitsas Spielfilme verpflichtet. In Im Nebel (W tumane, 2012) führt er an die Westfront der Sowjetunion im Jahr 1942 und erzählt anhand eines Partisanen, der für einen Verräter gehalten wird, davon, wie sich moralische Haltungen (beziehungsweise entsprechende Zuschreibungen) nicht aufrechterhalten lassen. Die Einstellungen sind dergestalt inszeniert, dass sie eher physische Manöver veranschaulichen, anstatt Einblicke ins Innere der Figuren, Hinweise auf ihre Beweggründe zu geben.

Mein Glück entwirft auf ähnliche Weise ein Bild des gegenwärtigen Russlands, indem er einem Lkw-Fahrer folgt, der die Transitroute verlässt. Der Film verirrt sich, bildlich gesprochen, in einem rückständigen, mafiösen Hinterland, als der Mann einer Prostituierten helfen will. Selbstlose Taten haben hier den gegenteiligen Effekt. Die Menschen handeln rücksichtslos. Die Schnitte zu Szenen aus der Vergangenheit erfolgen hart. Loznitsa erforscht eine Gesellschaft, deren Unerbittlichkeit sich nicht getrennt von historischer Last zeigen und verstehen lässt. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 23.4.2015)