Akçam: "Es gibt eine Kontinuität vom Völkermord zur Republik."

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Viele Personen, die eine Rolle beim Genozid am armenischen Volk spielten, wurden hochrangige Vertreter in der Türkei, sagt der türkisch-deutsche Historiker Taner Akçam. Er beschäftigt sich schon seit Jahren mit der Erforschung des armenischen Völkermordes. 1977 wurde er in der Türkei wegen seiner politischen Gesinnung zu neun Jahren Haft verurteilt. Er flüchtete, erhielt in Deutschland Asyl und promovierte. Im Interview mit DER STANDARD fordert Akçam, die Türkei müsse den armenischen Völkermord anerkennen und sich dafür entschuldigen.

STANDARD: Für auswärtige Beobachter ist es immer wieder verblüffend, dass niemand in der Türkei wirklich sagt: Was 1915 passiert ist, geschah in einer anderen Zeit, unter einem anderen Regime, und wir, als Vertreter der Republik, können dies von einer neuen Warte aus bewerten. Warum tut sich die Türkei so schwer damit?

Akçam: Die Türken verpassten die Gelegenheit dafür in den 1920er-Jahren. Sie hätten es in der Atmosphäre nach dem Waffenstillstand von 1918/1919 tun können. Zu jener Zeit hofften die türkischen Nationalisten, sie könnten bei der Friedenskonferenz in Paris bessere Bedingungen erhalten, indem sie einen gewissen Abstand zur Vergangenheit nahmen. Die Türken hatten allerdings keinen Erfolg in Paris, und als Frankreich und Großbritannien Anatolien aufteilten, begann in der Türkei die Zeit der Verteidigung der Vergangenheit.

Der Übergang vom Reich zur Republik war am Ende auch leicht. Der türkische Unabhängigkeitskrieg, der folgte, wurde von genau der Partei geführt, die den armenischen Völkermord organisiert hatte. Die Partei der Einheit und des Fortschritts war die treibende Kraft bei der Errichtung der Republik. Mustafa Kemal kam von außerhalb und wurde zum Führer gemacht. Die Menschen wussten damals, und jeder weiß es heute: Es gibt eine Kontinuität vom Völkermord zur Republik. Viele Personen, die eine Rolle beim Genozid spielten, wurden hochrangige Vertreter der Republik.

STANDARD: Der Völkermord als ein Grundstein der Türkischen Republik?

Taner Akçam: Ja. Das war auch meine erste These im Jahr 1991, als ich die Forschungen zum Völkermord begann. Ich benutzte den Begriff Völkermord, aber es gab in den 1920er-Jahren führende türkische Politiker, die offen darüber sprachen: Hätten wir die Armenier nicht beseitigt, hätten wir unsere Republik nicht gründen können, sagten sie. Die Vorstellung, dass das Vaterland nur wegen des Völkermords aufgebaut und beschützt werden konnte, saß bereits in den Köpfen der herrschenden Klasse.

STANDARD: Das intellektuelle Klima in der Türkei hat sich in den vergangenen Jahren stark geändert. Man kann nun über den Völkermord an den Armeniern sprechen, Ihre Bücher werden in den Läden in Istanbul verkauft. Was halten Sie von den Entschuldigungsformeln der heutigen türkischen Führung, zuerst gegenüber den Kurden aus Dersim, die 1937/38 Opfer von Massakern wurden, dann gegenüber den Hinterbliebenen der Familien von 1915?

Akçam: Wechselt die herrschende Elite, ändert sich auch das Verhältnis zur Vergangenheit. Die Türkei wurde – vereinfacht gesagt – von einer Militärbürokratie regiert, die 1920 die Republik schuf und ungeachtet aller Wahlen bis 2002 an der Macht blieb. Dann kam die AKP, die eine islamistische, sunnitisch geprägte Mittelklasse vertritt. Die AKP tat sich leichter, über die Verbrechen der Vergangenheit zu sprechen, weil sie damit ihre Feinde treffen konnte – das Militär und die Bürokratie. Erdogan und seine Partei begannen mit Dersim, was am einfachsten war. Sie konnten auf diese Weise ihre politischen Gegner angreifen, die Sozialdemokraten der CHP, die damals, in den 1930er-Jahren, im Ein-Parteien-Staat herrschten. Beim Völkermord an den Armeniern weiß die AKP, dass hier etwas Fürchterliches passierte; aber sie weiß nicht, wie weit sie gehen soll. Der Grund ist die Rolle des Islam, der muslimischen Bevölkerung am Mord an der christlichen Minderheit.

Der Wechsel der Elite erklärt jedoch nur zum Teil die Öffnung in der Türkei. Aus meiner Sicht war es die Ermordung von Hrant Dink 2007, die die moralische Haltung der türkischen Gesellschaft gegenüber der Vergangenheit verändert hat. Bis zu Hrants Ermordung wurden wir, Historiker und Intellektuelle, von einem Gericht zum nächsten gezerrt; Hasskampagnen wurden gegen uns organisiert.

Doch als Hrant Dink umgebracht wurde und Hunderttausende von Menschen auf die Straßen gingen, begannen wir psychologisch die Oberhand zu gewinnen. Heutzutage kann uns niemand angreifen. Die Leugner des Völkermords sind in der Defensive, wie sich an den Debatten zeigt. Das mag sich wieder ändern, wenn Nationalisten an die Macht kommen – daran habe ich keinen Zweifel. Aber die Zivilgesellschaft in der Türkei ist gleichzeitig in den vergangenen Jahren gewachsen, die kurdische Bewegung ist stärker geworden. Die Kurden stehen dem Thema Armenier sehr aufgeschlossen gegenüber. Je näher wir einer Lösung der Kurdenfrage kommen, desto näher gelangen wir an den Punkt, an dem wir das Thema des armenischen Völkermords öffnen können.

STANDARD: Das ist ein wenig verwunderlich, weil kurdische Stämme und Milizen an den Massenmorden an Armeniern in Ostanatolien beteiligt waren.

Akçam: Ja, sie waren beteiligt, aber die Kurden heute diskutieren ganz offen über die Ereignisse. Sie argumentieren, ihre Stammesführer seien damals von den Türken benutzt worden. Die Kurden haben sich mittlerweile mehrfach für ihre Rolle im Völkermord entschuldigt. Sie sind in dieser Hinsicht offener gegenüber einer Anerkennung der Vergangenheit.

STANDARD: Der türkische Regierungschef Ahmet Davutoglu, der gern in neoosmanischen Kategorien denkt, hat die Idee des "geteilten Leids" vorgestellt: Jede Volksgruppe hat während der Kriege beim Niedergang des Osmanischen Reichs gelitten, so sagt er, die Türken auf dem Balkan ebenso wie die Griechen und die Armenier.

Akçam: Ich nenne das den humanistischen Touch für eine alte Politik des Leugnens. Das ist alles, was sich daran geändert hat. Nicht die Leugnung des Völkermords an sich. Aber die AKP-Regierung bedient sich zumindest nicht der Hassrhetorik der Nationalisten. Für die Fortdauer dieses Leugnens gibt es mehrere Gründe, und der wichtigste scheint mir die Frage der Entschädigung zu sein. Zeigt die politische Führung auch nur irgendeine Schwäche, die auf eine Anerkennung dieser Vergangenheit deutet, kämen andere und würden sagen: Gut, wenn es also so ist, dann stellt es richtig, korrigiert die Missetaten der Vergangenheit.

STANDARD: Staatspräsident Erdogan erklärte kürzlich, Historiker sollten zusammenkommen und die Frage von 1915 untersuchen. Finden sie etwas, dann sei die Türkei bereit, Konsequenzen zu ziehen und Entschädigung zu leisten.

Akçam: Das ist Rhetorik. Die Argumentation an sich ist schon sonderbar. Alle Historiker, die seit Jahren über das armenische Thema forschen, sind bekannt. Ihre Thesen und Schlussfolgerungen sind bekannt. Holen sie nun einen Historiker vom Mars und schicken ihn in das Osmanische Archiv in Istanbul? Glaubt denn irgendjemand wirklich, dass Yusuf Halacoglu zum Beispiel, der 15 Jahre Direktor des Archivs war, noch einmal Dokumente studiert und plötzlich erklärt: "Ich habe mich geirrt, der Völkermord hat stattgefunden"? Oder dass Taner Akçam nach all den Jahren der Forschung aus den Archiven kommt und sagt: "Es gibt da ein geheimes Dokument, ich habe es gefunden, und, oh, es ist doch kein Völkermord." Das ist lächerlich. Wenn es solche Dokumente gibt, dann muss der türkische Staat nicht auf mich warten; er braucht sie nur zu veröffentlichen.

STANDARD: Die offizielle Linie der Türkei ist immer noch: Die Ereignisse von 1915 kann man nicht als Genozid bezeichnen, da der legale Begriff erst 1948 von der UNO festgelegt wurde.

Akçam: Das ist eine hohle Debatte, denn Raphael Lemkin, der Mann, der diesen Begriff für die UNO geprägt hat, studierte eben den Fall der Armenier. Er hat darin etwas Neues gesehen, das er als Völkermord definierte. Zu sagen, die Definition von 1948 gelte nicht für etwas, das vorher geschah, ist absurd. Aus legaler Sicht macht es auch keinen Unterschied, ob man es Völkermord nennt oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Der Punkt ist, dass die Türkei das, was geschehen ist, als Verbrechen anerkennen und sich dafür entschuldigen sollte. Und nach dieser Entschuldigung sollte die Türkei beginnen, mit Armenien und der Diaspora über eine Entschädigung zu verhandeln.

STANDARD: In Ihrem Buch "The Young Turks' crime against humanity" präsentieren Sie an die 600 verschlüsselte Telegramme der Regierungsbehörden aus jener Zeit. Sie sind eine Hauptquelle für Ihre Erkenntnisse. Wie konnten Sie diese Telegramme lesen?

Akçam: Das Innenministerium hat 1913 ein Büro für Verschlüsselungen eingerichtet, um kurze Nachrichten per Telegramm zu verschicken. Sie waren dann als "vertraulich", "höchst vertraulich", "nur persönlich zu öffen" usw. klassifiziert. Im Osmanischen Archiv in Istanbul gibt es handschriftliche Versionen dieser Telegramme, etwa von Talat Paşa, die später dann verschlüsselt wurden. Wir haben auch – wenn auch nicht viele – Telegramme aus der Provinz an die Zentralregierung. Sie wurden nach Empfang entschlüsselt. Das Zahlensystem wurde dabei jeden Monat oder jeden zweiten Monat geändert. Diese Telegramme wurden im Archiv belassen und nicht vernichtet, weil man dachte, sie könnten den Völkermord nicht beweisen.

Es ist wahr, unter diesen Dokumenten gibt es kein "smoking gun", die eine, direkte Anweisung zur Auslöschung der armenischen Bevölkerung. Aber es gibt so viel begleitende Beweise, so viel, das die Völkermord-Politik der osmanischen Behörden klarmacht. Und diese Dokumente stehen jedem Forscher zu Verfügung.

STANDARD: Sind die Archive im Verlauf der Jahre "gesäubert" worden?

Akçam: Ich weiß nicht, ob es nach 2000 eine Säuberung gab. 1980, nach dem Militärputsch, hat eine solche Säuberung stattgefunden, und dafür gibt es Augenzeugen. Auch nach dem Waffenstillstand 1918 kam es nach unserem Wissen bei mehreren Gelegenheiten dazu. Es gab sogar ein Gerichtsverfahren gegen einen Minister wegen der Zerstörung von Archivmaterial. Es gibt Lücken in den Quellen. Wir haben zum Beispiel nichts aus dem Zentralarchiv der Partei der Einheit und des Fortschritts. Das Parteiarchiv ist verschwunden.

STANDARD: Könnten Sie heute in der Türkei als Geschichtsprofessor lehren?

Akçam: Unter meinen Freunden gibt es einen Scherz. Sie sagen: Wenn wir für dich eine Stelle in der Türkei finden, dann heißt das, wir haben Fortschritt gemacht. (Markus Bernath, derStandard.at, 21.4.2015)