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Nacht über Moskau: Vor allem die Finanzsanktionen schaden, sagt Dietmar Fellner.

Foto: AP/Zemlianichenko

Moskau/Wien - Der Ölpreis stabilisiert sich, der Rubel ist auf dem Weg der Besserung, und gemäß den Aussagen von Präsident Wladimir Putin während seiner mehrstündigen Fernsehaudienz hat Russland das "Schlimmste hinter sich". Auf die Realwirtschaft schlägt die Krise zahlenmäßig allerdings jetzt erst richtig durch: Laut der russischen Statistikbehörde Rosstat sind alle wichtigen wirtschaftlichen Parameter im ersten Quartal eingebrochen, die Reallöhne und -einkommen, die Investitionen, die Industrieproduktion und der Handel.

Stark betroffen ist der Außenhandel: Der Export ist demnach um 20 Prozent zurückgegangen, der Import - auch aufgrund der Sanktionen und des daraufhin von Russland gestarteten Importverdrängungsprogramms gar um über 35 Prozent. Einer Konsensbefragung von Bloomberg nach rechnen Experten im ersten Quartal daher mit einem BIP-Rückgang von 2,9 Prozent.

Das ist allerdings nicht der Tiefpunkt: Im Frühjahr wird sich die Rezession mit einem Minus von 4,6 Prozent, im Sommer gar 5,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr manifestieren. Erst im letzten Quartal des laufenden Jahres rechnen die Experten mit einer Entspannung, sodass sich der Rückgang insgesamt bei 3,9 Prozent einpendelt. Auch für 2016 erwarten die meisten Experten noch keine Erholung, die Wirtschaft beginnt demnach erst 2017 wieder zu wachsen - in Abhängigkeit vom Ölpreis zwischen 0,5 (bei 60 Dollar) und 2,1 Prozent (bei einem Anstieg auf 80 Dollar). Allerdings ist sich selbst die russische Regierung über die Entwicklung des Ölpreises keineswegs sicher: Vizefinanzminister Maxim Oreschkin warnte am Montag vor einem "hohen Risiko", dass der Ölpreis erneut auf 40 Dollar abrutschen könne, während die Zentralbankvizechefin Ksenja Judajewa solch ein Szenario als "unwahrscheinlich" zurückwies.

Zuletzt wies Russland 2009 rote Zahlen beim BIP-Wachstum auf, Anzeichen einer neuen Krise hat es nach Angaben mehrerer ausländischer Unternehmen in Russland allerdings schon seit Ende 2012 gegeben. Die Krise sei nur verschleppt worden, heißt es aus Unternehmerkreisen.

Sanktionen treffen KMU

Dietmar Fellner, Österreichs Wirtschaftsdelegierte in Moskau, schätzt die Lage weniger prekär ein. Die Krise in Russland wird in großen Teilen herbeigeschrieben, sagt Dietmar Fellner, der österreichische Wirtschaftsdelegierte in Moskau. "Die Russen kaufen jetzt weniger Autos, die Autoindustrie wächst also nicht. Dafür gab es davor zweistellige Wachstumsraten", Am Ende würden größere Investitionen auf Eis liegen, so Fellner: "Ob die Autobahn kommt, ist nicht so wichtig. Die Projekte für die Fußball-WM 2018 müssen aber ausgeführt werden."

Wirklich unerfreulich seien die Sanktionen des Westens für die Klein- und Mittelbetriebe vor Ort. Dass russische Banken kein Kapital mehr bekommen und sich damit nicht mehr günstig in den USA und Europa refinanzieren können, treffe im Grunde die Falschen: "Private tragen nur 30 Prozent zum BIP bei. Der Aufbau dieses Sektors leidet. Die Staatsbetriebe Rosneft oder Gasprom rennen ohnehin zum Staat und werden von ihm auch unterstützt."

Österreicher mitgefangen

Die Österreicher liefern vor allem Maschinen und Anlagen sowie pharmazeutische Erzeugnisse nach Russland, im Vorjahr immerhin im Umfang von mehr als acht Milliarden Euro. Papierindustrie, Bauunternehmen, holzverarbeitende Konzerne haben hier Werke errichtet. Mayr-Melnhof ist ebenso vertreten wie Wienerberger, Kaindl Kronospan oder Mondi. Mayr-Melnhof etwa produziert Konsumgüterverpackungen in St. Petersburg. Man spüre den Rückgang der privaten Kaufkraft, heißt es auf Anfrage. Russland sei aber ein kleinerer Teil des sehr breiten Länderportfolios und bleibe dort "langfristig orientiert". Wienerberger betreibt derzeit in Russland drei Produktionsanlagen. 2014 verzeichnete Russland laut Sprecherin "eine starke Entwicklung". In den für Wienerberger relevanten Wohnbaumärkten Moskau und Kazan hätte man noch keine negativen Auswirkungen der Wirtschaftssanktionen und des Ölpreisverfalls zu spüren bekommen. Für heuer rechnet Wienerberger allerdings "aufgrund der Währungsabwertung, der Auswirkungen des Ölpreisverfalls und der Wirtschaftssanktionen mit einem deutlichen Rückgang". Das Ausmaß sei aus heutiger Sicht aber nicht abzuschätzen.

Betroffen seien die Österreicher hauptsächlich im Lebensmittelbereich, so Fellner. "Da entgehen uns bis zu 100 Millionen Euro im Jahr." Die traditionell gewachsenen geschäftlichen Verbindungen der Österreicher sieht Fellner am Prüfstand. Die Exporte nach Russland sanken 2014 um acht Prozent auf 3,2 Milliarden Euro. Im aktuellen Jahr wird ein Einbruch von 25 Prozent erwartet. Fellner: "Für die Österreicher heißt es mitgefangen, mitgehangen." Dass die Österreicher nicht als Hardliner auftreten, würden die Russen allerdings schätzen. Ein Punkt, der durchaus auch Kritikern sauer aufstößt: Im Interesse der Wirtschaft würde die Moral kaum eine Rolle spielen. Fellner kann dies nicht nachvollziehen: "Wir halten uns an die Sanktionen. Ich sehe hier keine Doppelmoral."

Chancen in Aserbaidschan und Kasachstan

Ähnlich unkonventionell halten es die Österreicher in den ehemaligen Sowjetrepubliken Aserbaidschan und Kasachstan. Aserbaidschan etwa ist reich an Öl und Gas und gerät wegen der tristen Menschenrechtslage immer wieder in den Fokus internationaler NGOs. Der Regierung um Staatspräsident Ilham Alijew wurde wiederholt das Vorgehen gegen Regimekritiker vorgeworfen. Das politische Verhältnis zu Europa ist deswegen auch nicht ungetrübt. So manche Investoren wittern hier aber schon das nächste Dubai und wollen sich ihr Engagement nicht madig machen lassen. Man möchte sich dazu nicht laut äußern, aber hinter vorgehaltener Hand verweist manch einer auf China. Auch dort werde investiert.

Die Chancen sind derzeit allerdings etwas getrübt. Denn tatsächlich will sich die Volkswirtschaft in Aserbaidschan breiter aufstellen, die staatliche Öl- und Gasgesellschaft Socar erwirtschaftet bisher den Großteil der Wirtschaftskraft des Landes von insgesamt 72 Milliarden Dollar. Aber "derzeit steht der Staat bei den Ausgaben auf der Bremse", sagt Fellner. Während der Öl- und Gasbereich fest in der Hand internationaler Konzerne wie BP, Chevron und Co ist, spielen die Österreicher eine vergleichsweise kleine Rolle, so Fellner. Einer, der seine Chance wahrgenommen hat, ist der heimische Stahl-Glas- und Brückenbauer Waagner-Biro. Das Unternehmen ist schon seit geraumer Zeit vor Ort. Die Österreicher haben im Vorjahr den Bau des International Terminals am Baku Airport abgeschlossen und waren zuvor am Bau zweier Mautstellen, des Presidential Terminals und des Business Aviation Terminals, beteiligt.

Verhaltene Aussichten

Auch im rohstoffreichen Kasachstan sind die Aussichten laut dem Wirtschaftsdelegierten Michael Müller derzeit verhalten. Nach Wachstumsraten von rund sieben Prozent in den vergangenen Jahren wird das BIP-Plus heuer bei rund 1,8 Prozent verharren, schätzt Müller. "2015 wird kein so gutes Jahr." Der größte österreichische Investor vor Ort ist die heimische OMV über die rumänische Tochter Petrom, die seit 1998 in Kasachstan präsent ist, um Ölfelder zu entwickeln. Deutsche Konzerne seien da besser aufgestellt, sagt Müller. "Die Großen setzen dort etwa im Baustoffbereich kleinere Projekte auf." Die Österreicher täten gut daran, sich "nicht zu Tode zu fürchten". (André Ballin, Regina Bruckner, DER STANDARD, 20.4.2015)